Sichere Wurzeln, starke Flügel

 

Ab ihrem ersten Atemzug sind Menschenbabys schutzbedürftig und von ihren Eltern oder engen Bezugspersonen abhängig, sie können sich weder selbst ernähren noch fortbewegen.
Neben den Grundbedürfnissen nach Sicherheit und Nahrung ist das Bedürfnis nach Nähe besonders stark ausgeprägt. Dies hat bereits den Babies unserer Vorfahren in der Steinzeit das Überleben gesichert: Ohne ihr Weinen, Rufen, Klammern hätte die Sippe sie möglicherweise zurückgelassen. Durch körperliche Nähe wird dieses biologische Muster, das tief in uns verankert ist, am besten beruhigt. „Auf der Suche nach Schutz und Sicherheit wendet sich der Säugling an eine Bezugsperson“, erklärt Karl Heinz Brisch, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychoanalytiker, Privatdozent und Leiter des Instituts für Early Life Care an der PMU Salzburg. In seinen zahlreichen Werken betont der Vater dreier Kinder und Experte für frühkindliche Entwicklung die wichtige Bedeutung der starken Eltern-Kind-Beziehung von Beginn an: „Die sichere Bindung ist das Fundament der stabilen Persönlichkeit.“ Durch das sogenannte „Bonding“, das maßgeblich im ersten Lebensjahr passiert, kann ein Säugling das Urvertrauen entwickeln, das „zeitlebens als stabiles Fundament seiner Entwicklung“ dient. Goethe sprach von „Wurzeln und Flügeln“. Das Bonding beginnt bereits im Mutterleib: Wenn die Eltern sanft mit ihrem Kind sprechen und sich die gemeinsame Zukunft ausmalen. Die Erkenntnisse der Entwicklungsforschung haben dazu beigetragen, dass Mütter heute nicht mehr von ihren Kindern getrennt werden und ihnen möglichst viel Nähe geben können. Wird das Baby unmittelbar nach der Geburt auf die nackte Haut seiner Mutter gelegt, wird das für die Bindung so wichtige Hormon Oxytocin ausgeschüttet.

Den Forschungsarbeiten des Kinderpsychiaters John Bowlby und der Psychologin Mary Ainsworth ist es zu verdanken, dass wir heute verschiedene Bindungstypen unterscheiden. Bowlby definierte zunächst drei Bindungstypen, die bis heute durch den von Ainsworth entwickelten „Strange Situation Test“ erforscht werden. Dabei begeben sich einjährige Kinder mit ihrer Hauptbezugsperson (meist die Mutter) in einen Raum. Daraufhin wird die Mutter gebeten, den Raum zu verlassen. Das Verhalten des Kleinkindes auf das Verschwinden der Mutter zeigt sein Bindungsverhalten. Rund 65 Prozent der Kinder zeigen eine sichere Bindung: Sobald die Mutter weg ist, reagieren sie mit Unmut und Weinen auf dir Trennung. Kommt sie wieder zurück, möchten sie gehalten und getröstet werden, wodurch sie sich relativ schnell beruhigen lassen. Dieses sichere Bindungsverhalten konnte sich entwickeln, weil die Mutter im ersten Lebensjahr feinfühlig auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingegangen ist. Das Kind konnte die Erfahrung machen: Meine Mama beschützt mich und kümmert sich um mich.

Kinder mit unsicher-vermeidendem Bindungsmuster scheinen mit Trennungen sehr gut umgehen zu können. Bei der Trennung zeigen sie nur wenig Anklammerungsverhalten. Kommt die Mutter zurück, reagieren sie distanziert und abweisend. Sie weinen nicht, wirken autonom und stark – dies entspricht jedoch nicht ihrem natürlichen Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit. Untersuchungen konnten zeigen, dass diese Kinder in der Trennungssituation eine höhere Herzfrequenz und ein Ansteigen des Stresshormons Kortisol erleben, doch anders als bindungssichere Kinder zeigen sie diese nicht. Diese Kinder haben in diesem jungen Alter von ihren Hauptbezugspersonen gelernt: Du musst alleine mit deinen Bedürfnissen zurechtkommen, ich kann dir dabei nicht wirklich helfen. Dieses Muster prägt sich ein und kann bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben. Bei unsicher-ambivalenten Bindungsmustern erleben Säuglinge wiederkehrend ambivalente Reaktionen auf ihre Bedürfnisse: Die Mutter reagiert manchmal feinfühlig, manchmal ängstlich oder abweisend auf sein Weinen. Im Strange-Situation-Test reagieren sie sehr ängstlich auf die Trennung der Mutter. Bei ihrer Wiederkehr zeigen die Kinder ein ebenso ambivalentes Verhalten: Sie klammern sich an, lassen sich über längere Zeit nicht beruhigen, wobei sie gleichzeitig abwehrendes Verhalten gegenüber ihrer Bezugsperson zeigen. Diese Ambivalenz verunsichert die Mutter erneut – ein Teufelskreis beginnt.
Spätere Untersuchungen haben darauf hingewiesen, dass es auch nicht klar zuordenbare, sogenannte desorganisierte Bindungstypen gibt. Die sichere Bindung ist die Basis für eine gesunde Entwicklung unserer Kinder. Dies geschieht bei einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung ganz nebenbei: Die Mutter kümmert sich um ihr Baby. Wenn es schreit, versucht sie, dem Unwohlsein ihres Kindes auf den Grund zu gehen: Hat es Hunger? Ist es müde? Sehnt es sich nach Körperkontakt? Oder ist es überfordert und braucht den sicheren Halt der Mutter, um wieder zur Ruhe zu kommen? Anders als in den nationalsozialistisch geprägten Erziehungsklassikern des vergangenen Jahrhunderts propagiert, können Eltern einen Säugling durch ein Zuviel an Zuwendung nicht verwöhnen.

Gerade in den ersten gemeinsamen Wochen mit einem Säugling ist der Alltag häufig geprägt von einem Wechsel der Gefühle: Zwischen der Euphorie über das neue Familienmitglied und der Verzweiflung über Schreiphasen liegen oft nur wenige Augenblicke. Jedes Kind ist anders und so sind es auch seine Bedürfnisse. Seit der Geburt unserer zweiten Tochter im vergangenen Sommer kommen mir oft die Worte des US-Psychoanalytikers Daniel Stern in den Sinn: „Die Mutter verliebt sich in ihr Kind“, und ich möchte hinzufügen: Tag für Tag, ein Stückchen mehr. Von einem Moment auf den anderen hat dieses zauberhafte Wesen unser Leben verändert. Mit ihrem ganz eigenen Charakter fordert sie unser Feingespür. Während unsere Erstgeborene sich am liebsten durch Singen beruhigen ließ, können wir unsere Jüngste damit nicht wirklich begeistern. Der Alltag ist geprägt von neuen Erkenntnissen: Was braucht sie jetzt, um zufrieden zu sein? Und im nächsten Augenblick? Da gibt es Tage voller Harmonie und Glückseligkeit und dann gibt es Tage, die mich an die eigenen Grenzen bringen und mich an meiner Kompetenz zweifeln lassen. Doch gerade nach diesen herausfordernden Momenten, wenn sie zufrieden in meinen Armen schläft, spüre ich, wie sich ein warmes Gefühl in meinem Herzen ausbreitet. Dieses innige Band zwischen uns beiden ist wieder ein Stück fester geworden.