Sechs Jahre – eine Ewigkeit

 

von Christa Stierl

 

„Die Zeit vergeht so schnell. Damals war ich jung und hübsch …“, sagt sie und schiebt das Foto von sich weg. Auf dem Foto sehe ich eine lebensfrohe und lebenskräftige Frau, die mir in der Apropos-Redaktion jetzt in natura gegenübersitzt. In meiner Wahrnehmung gilt die Kategorie „jung und hübsch“ für sie noch immer. Nur müder ist sie geworden, viel müder. Für sie scheint zwischen der Aufnahme und dem heutigen Tag eine halbe Ewigkeit zu liegen – dabei sind es nur sechs Jahre.

Gabriela Onica ist spontan eingesprungen, nachdem sowohl der erste als auch der zweite afrikanische Interviewpartner verhindert waren. Über sie gibt es schon ein Porträt in Apropos, und in diesem Porträt findet sich auch das Foto. Was hat sich verändert in dieser Zeit, die Gabriela so lang vorkommt?

Gabriela ist jetzt 39. Sie kommt aus einem Dorf in der Nähe von Pitești, seit 14 Jahren fährt sie nach Salzburg – beim ersten Mal waren der Sohn zwei, die Tochter drei Jahre alt. Seitdem pendelt sie zwischen hüben und drüben, ist vier, fünf Monate in Rumänien und fünf, sechs Monate in Salzburg, während die Kinder von den Großeltern betreut werden.

Wie kommt man überhaupt nach Salzburg? – Durch Mundpropaganda, durch Familienmitglieder und Bekannte, die hier sind. – Warum Österreich, und nicht zum Beispiel Deutschland? – „Weil die Leute hier freundlicher sind.“ – Und warum Salzburg, und nicht Wien? – „Weil die Leute hier freundlicher sind!“ In Wien hat Gabriela eine Zeitlang den „Augustin“ verkauft, in Salzburg sei das Verkaufen aber leichter.

Was sie als Kind werden wollte, frage ich. Sie hatte keine Vorstellung von der Zukunft, sagt sie, auch ihre Kinder, die jetzt 16 und 17 Jahre alt sind, wissen nicht, was sie einmal machen wollen. Bei uns wollen die kleinen Mädchen oft Prinzessin werden, versuche ich eine Brücke zu schlagen. Nein, Prinzessin wollte sie nie werden, sie musste von klein auf putzen, im Gegensatz zu ihrem Bruder. Prinzessin werden – das wurde ihr schon früh ausgetrieben …

Was findet sie in Österreich merkwürdig? Sie sieht mich verständnislos an. Na ja, sage ich, Afrikaner finden oft merkwürdig, dass Österreicher:innen mit ihren Hunden spazieren gehen. „They walk their dogs!!!“, lachen sie daheim. Oder ein Syrer erzählte, wie merkwürdig er es nach dem Anblick der zerbombten Städte und der Leichen in den Straßen fand, dass hier Menschen über den Tod ihres Kaninchens weinen. Sie denkt nach. Nein, das finde sie nicht merkwürdig. Man braucht etwas, an dem das Herz hängt. Und wenn ein Mensch keine Angehörigen hat, dann braucht er etwas, damit er nicht allein ist. Und dann würde man mit der Katze reden können, oder mit dem Kaninchen. Sie habe niemanden hier, und Bekannte hätten zu ihr schon gesagt, dass sie mit sich selbst reden würde – das wäre nicht gut …Wie? Keine Freundinnen oder Freunde? Und die anderen Rumänen? Manchmal würde sie zum Bahnhof gehen, um ein wenig Gemeinschaft zu erleben, aber nein, Freunde seien das nicht, sagt sie. „Nur Gott schaut auf mich … Und meine Stammkunden helfen mir, wenn sie mich ermuntern und meine Zeitungen kaufen.“

Was sie in Österreich schön finden würde? Ihren Platz, an dem sie steht – vor einem Biomarkt an der Alpenstraße. – Ich meine, sage ich, einen Platz im Zentrum, einen Park, einen Brunnen –so etwas in der Art? Nein. Sie schüttelt den Kopf. Ihren Platz. Und ihr Zimmer! Das ist vielleicht das schönste Ereignis in diesen sechs Jahren: Gabriela hat jetzt ein Zimmer, in dem sie allein wohnt. Sie muss nicht mehr draußen schlafen oder, mit viel Glück, auf einem Schlafplatz der Caritas, wie viele andere. In ihr Zimmer geht sie nach dem stundenlangen Stehen vor dem Supermarkt in Kälte und Hitze. Zu Ausflügen habe sie nach der Arbeit dann keine Kraft mehr. Auch am Sonntag bleibe sie meist daheim, um sich auszuruhen. Einmal nicht aufstehen, nicht stehen müssen …

Und gibt es etwas, auf das sie sich manchmal freut – ein besonderes Essen? Eine gute Tasse Kaffee? Nein, sagt sie, sie habe keine Freude am Essen. Und am Trinken auch nicht. Die Galle, weißt du. Diät, Diät …

Und sie hat Schmerzen. Eigentlich müsste sie einen Bandscheibenvorfall operieren lassen, hat aber Angst vor der Operation – mit 39 will man nicht gelähmt sein. Sie hat jetzt einen Rollwagen, damit sie die Zeitungen nicht mehr tragen muss. Das Stehen und Verkaufen sei aber besser als eine andere Arbeit – sie habe es einmal mit Bügeln probiert, aber nach zwanzig Hemden habe sie sich nicht mehr bewegen können. Lieber stehen, und ein bisschen gehen … Und außerdem fängt nach der Operation, auch wenn sie gut geht, ein Teufelskreis an: Wenn sie ausfällt, verliert Gabriela vielleicht ihren Verkaufsplatz. Wenn sie nicht verkauft, kann sie ihre Miete nicht zahlen und verliert ihr Zimmer. Wenn sie ihr Zimmer verliert, muss sie wieder draußen schlafen …

Was fehlt ihr hier am meisten, was vermisst sie in Rumänien? Nur ihre Kinder, sonst nichts. Lang kann sie aber nie bei ihnen bleiben, wegen des Verkaufsplatzes. Und wegen der Miete – 420 Euro plus Strom müssen erst verdient werden. Ich fange zu rechnen an, wie viele Zeitungen sie verkaufen muss, um diese Summe hereinzubringen, und höre schnell wieder auf: Die Zahl erscheint mir astronomisch … Dabei will Gabriela sich zusätzlich auch noch etwas ersparen und daheim ein Zimmer anbauen, für ein wenig Privatsphäre. Jetzt schläft sie mit ihren beiden Kindern noch in dem einem, die Eltern mit dem Bruder in dem anderen Zimmer.

Zahlt sich dieses Hin-und Herfahren denn aus, wenn nur 50 bis 100 Euro bleiben, die man heimschickt? Ja, denn diese Summe hat in Rumänien einen anderen Wert als bei uns. Und warum produzieren Menschen nicht Folklore-Sachen und verkaufen sie, um nicht ins Ausland fahren zu müssen? Warum verkaufen sie nicht auf der Straße hausgemachtes Essen, wie ich es in Russland gesehen habe? – Weil es keine Touristen gibt, und die Einheimischen kaufen nicht. Für einen gebundenen Besen kann man sich nur einen halben Laib Brot kaufen. Deswegen geht jeder weg, der kann. – Für den Staat wäre es natürlich besser, ergänzt die Dolmetscherin, wenn die Leute daheim Steuern zahlen, in ein Pensionssystem einzahlen würden, so zum Beispiel auch die vielen Pflegekräfte, die hier unser Pflegesystem tragen. Aber die Leute müssten mitmachen, und auch Arbeit haben …

Mein Rettungskartenhaus für Rumänien fällt in einer Sekunde in sich zusammen, und die Fragen bleiben mir langsam im Hals stecken.

Man muss das Leben leben, wie es kommt, sagt Gabriela.
„Ja“, sage ich, weil ich nicht mehr dazu sagen kann.