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  1. FEBRUAR 2021
  2. Partner auf Zeit

Partner auf Zeit

 

Christine und Thomas sind kein Paar. Doch einmal im Monat schlafen sie miteinander. Christine bezahlt Thomas dafür. Nicht nur für Sex, sondern auch, weil bei ihm egal ist, dass sie im Rollstuhl sitzt.

von Carolin Gißibl

 

Es ist 5.30 Uhr, als der Pfleger ein schwarzes Spitzenhöschen über Christines Windel zieht. Er kämmt ihre langen, grauen Haare. „Löwenmähne sagt Thomas immer“, erzählt Christine und grinst wie eine Jugendliche, die voller Vorfreude ist, etwas Verbotenes zu tun.

Der Tag, als Thomas zum ersten Mal in seinem blauen Bulli mit dem Peace-Symbol auf der Motorhaube in Christines Hof im nordrhein-westfälischen Minden parkte, war der 20. April 2017 – das Datum hat sich in ihr Gedächtnis graviert. Bis dato war Thomas ein Fremder aus dem Internet.

In Flipflops, Cargohose und Hemd stieg er aus dem Wagen, erinnert sich Christine, und holte einen Koffer aus dem Laderaum: Massageöl, Dildos, eine Straußenfeder, Bluetooth-Lautsprecher für Musik, Kerzen, deren Licht das der grellen Neonröhren in den Pflegezimmern ersetzen, Spiegel, um Körperstellen zu zeigen, die sonst keiner sieht, Bondage-Seile, die Spastikern helfen, zu entspannen, Kondome, Gleitgel, Lecktücher.

Thomas hat lange Haare, Dreitagebart, Grübchen und ein Zertifikat, auf dem steht: „Herr Aeffner hat die Methoden der erfolgreichen Sexualbegleitung erlernt. Er hat darüber hinaus behinderte Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen bei ihrer sexuellen Selbsterfüllung unterstützt und dabei deren Selbstbestimmung und Würde gefördert.“

Als Sexualbegleiter hilft der 67-Jährige alten, behinderten und traumatisierten Menschen, Hemmungen vor Berührungen zu verlieren. Er streichelt, massiert, zeigt, wie sie sich selbstbefriedigen können, oder bringt sie zu mentalen Orgasmen. „Lustvoll Sex zu haben ist wichtig für ein glückliches Leben. Das will ich auch Menschen ermöglichen, die dazu allein nicht in der Lage sind“, sagt Thomas. Manchmal schläft er mit ihnen – gegen Bezahlung.

Christine war anfangs skeptisch. Würde sie sich nicht „dreckig“ fühlen, einen Mann aus dem Internet für Sex zu bezahlen?

Bevor der Pfleger zum nächsten Patienten eilt, hievt er Christine in den Rollstuhl. „Scheißkiste“ nennt sie ihren wohl treusten Gefährten. Vor 53 Jahren kam Christine als Frühchen zur Welt, im sechsten Schwangerschaftsmonat. Diagnose: spastische Tetraplegie. Ihre Beine und ein Arm sind gelähmt, nur mit der rechten Hand kann sie greifen und leichte Dinge wie Besteck oder einen Stift halten. Während ihre Schwestern mit anderen Kindern um ihren Rollstuhl rennen, musste sie begreifen, dass sie nie herumtollen wird. Sie musste begreifen, dass sie ihr Leben lang auf andere Menschen angewiesen ist.

Christine steuert mit dem Joystick ihres Elektrorollstuhls durch die Wohnung. An den Wänden hängen Embleme und ein Mannschaftsposter vom FC Schalke 04. Auf der blauen Couch liegt eine Schalke-Decke, blauweiße Trinkgläser stehen in der Vitrine. Auch der Rollstuhl ist in den Farben ihres Vereins.

Sie stoppt vor dem Esstisch. Darauf steht ein Porträt von Thomas. Er deutet ein Lächeln an, die grauen Haare wellen sich auf seinem Tanktop. Vor dem Porträt liegt ein Tischkalender. Christine nimmt einen Kugelschreiber und streicht an diesem Dienstagmorgen eine „1“ durch. Nun sind es nicht mehr Tage, die sie zählt, sondern Stunden: Noch etwa zehn, bis Thomas kommt.

13 Jahre war Christine verheiratet. Über die Ehe redet sie wie über ihre schmerzvolle Krankheit. Ihr Mann ist physisch gesund. Für ihn das Recht, sich das von Christine zu nehmen, was er wollte und wann er wollte. Vor sieben Jahren reichte sie die Scheidung ein.

Christine legte sich eine neue Wohnung, eine harte Hülle und ein derbes Mundwerk zu. Über dem Tisch hängt seither ein Bild mit dem Spruch: „Ich bin nicht auf der Welt, um so zu sein, wie andere mich gerne hätten.“ Sie selbst bezeichnet sich als „Kodderschnauze“, eine herzhafte Person, „die spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist.“ Und so sagte sie eines Tages zu ihrem damaligen Betreuer: „Ich will Sex. Keinen, der mit mir ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ spielt. Sonst platze ich.“

Seit Monaten war sie mauliger geworden, hatte Betreuer und Pfleger nach eigener Aussage „ohne Grund zusammengeschissen“. Christine fehlt es, in den Arm genommen zu werden, Nähe und Geborgenheit zu spüren, ein bisschen rumzuspielen.

Den Wunsch hatte sie schon als Jugendliche geäußert. „Behinderte brauchen so was nicht“, entgegnete man ihr. „Schon gar nicht, wenn sie Windeln tragen.“ Es waren Aussagen von Menschen, die ihr nahestanden. Aussagen, die wehtaten. Obwohl Christine es gewohnt war, nicht ernst genommen zu werden. „Leute denken oft, du bist nicht helle im Kopf, nur weil du im Rollstuhl sitzt“, erzählt sie.

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