Mit dem Nachtbus nach Bukarest & weiter

 

Er hält das Stückchen Papier zwischen seinen Fingern. Spielt damit in der Jackentasche. Faltet es zusammen und wieder auseinander. Damit die Augen nicht zufallen. Aber sie fallen zu. Er rutscht im Sessel hoch. Blickt um sich. Vor ihm schnarcht einer. Der schnarcht schon seit acht Stunden. Der kann auch gut schnarchen; seine Frau sitzt neben ihm und passt auf die Sachen auf.

 

von Veronika Aschenbrenner-Zezula

 

Er und seine Frau würden sich abwechseln. Stundenweise. Schlaf du zwei Stunden. Dann ich. Aber immer schaut einer von uns beiden aufs Gepäck; auf die Ostergeschenke für unsere Kinder.

Früher, damals, als er selbst noch Kind war und mit seiner Großmutter am Ostersonntag gemeinsam in die Kirche ging, da gab es nach der Rückkehr ins Haus seiner Eltern nur rotgefärbte Eier. Zum Abschluss des Festessens hat er sich eines der vielen hartgekochten Rot-Eier ausgesucht. Ein starkes, ein robustes, eines, das es aushält, wenn es gegen die Schale eines anderen Eies prallt. Und erst nach dem lustigen Eierstoßen ist er mit seinen beiden Schwestern und den Nachbarskindern spielend im Dorf herumgezogen wie die Kinder aus Bullerbü.

Der Fahrer bremst scharf. Jetzt ist er wieder ganz wach; kann nachdenken und über seine Sachen wachen. Schon lange sind die Eier nicht mehr nur rot; nur färbt das Kunterbunt nicht all zu fröhlich auf sein Leben ab. Seit dem großen Unwetter, dort, wo er eigentlich lebt, die paar wenigen Tage im Jahr, aber wo er immer lebt in Gedanken, ständig, kam auch Wasser in seine Zimmer. Schlechtes Fundament. Alte Gemäuer. Die Feuchtigkeit zieht immer noch bis über 1 Meter 50 die Wände hoch, in beiden Zimmern. Innen und außen kaputt, bald schon zerfallen. Immer noch stehen die Möbel draußen, damit sie nicht stinken, vermodern, nicht noch reifer werden für die Mülldeponie. Immer noch kocht seine Frau draußen, bei Kälte, bei Regen, egal, schon seit mehr als einem Dreivierteljahr. Dass er mit vielen Schnarchnasen in einem Raum schläft, so oft, wenn er seine Zeitungen verkauft oder überhaupt draußen, das macht ihm nichts. Aber, dass seine Familie so eng beieinander pickt, das rumort im Kopf. Immer. Seine Frau, der Kleinste, Noch-nicht-mal-zwei-Jahre-Alte, und seine beiden Töchter, in wenigen Jahren schon erwachsen. Er sitzt im Bus, sieht aus dem Fenster und erblickt im Spiegelbild weder seine Augen noch seinen Mund; sieht bloß die 3 Zimmer vor sich. 3 Zimmer, endlich! 3 Zimmer! Denkste! 2 Zimmer davon heißen Katastrophe. Das Dritte hat er selbst erschaffen, selbst gebaut; hat das ja gelernt. Schon als Junge musste er nach der Schule mit dem Vater auf sämtliche Baustellen im Dorf. Englisch und Deutsch hat er weder beim Mauern verputzen noch im Klassenzimmer auf der Schulbank gelernt, die hat er sich selbst beigebracht. Neben ihm erwacht seine Sitznachbarin. Sie hat ihm zu Beginn der Fahrt die Werbeanzeige ihrer Vermittlungsfirma gezeigt. PflegerInnen aus Rumänien rasch und einfach finden. Keine Gebühr! Fair. Die günstigste Pflege. Ob das erwachsene Kind des alten Vaters, den sie pflegt, Lust hätte auf einen Rollentausch, hat sie ihn lachend gefragt. Der Bus biegt nach links ein. Sie halten an der nächsten Tankstelle. Raststätte. Kurze Pause. Die Hälfte schnarcht weiter, die andere steigt aus. Er schnarcht nicht, steht nicht auf, stiert nur auf die grelle Farbe einer Reklametafel.

Er weiß, wie man ein ordentliches Fundament baut, sowohl in Sprachen als auch für seine eigenen 4-Wände. Für letztere hat er gemauert, hat er verputzt, hat nur jemanden gebraucht, der hilft beim Fenster. Hat einen Ofen hineingebaut, damit sie es im Winter warm haben. Die Haut seiner Hände hatte er sich dabei aufgerissen. Jeder Riss war es wert. Hätte er kein ordentliches Fundament erschaffen, jeder weitere Regen würde auch die Wände des letzten Zimmers durchnässen. In den 2 alten Zimmern, in denen die pastellrote Wandfarbe verschmutzt ist vom Überschwemmungsschlamm … Würden sich seine Töchter, Frau und Sohn darin befinden, der Moder krallte sich in ihre Kleider, würde ihre Lungen zerfasern und würde wie Rosenwasser sicher nicht riechen. Alles, außer das Kochen draußen, geschieht im 3. Zimmer. Die Dusche steht im 3. Zimmer, in dem sie zu 5. schlafen, nur zu 4., wenn er nicht bei ihnen ist, sondern Zeitungen verkauft. Wenn er nicht bei ihnen ist, muss niemand fragen, ob er hinausgeht, wenn sie sich waschen wollen, müssen sie ihn nicht bitten, das Zimmer zu verlassen. Nach draußen zu gehen. Dass er nichts Neues hinbauen kann, hält er nicht aus. Zement, Ziegelsteine: noch teurer geworden und die Einkünfte weniger. Was helfen da drei Sprachen? Kein einziges rumänisches Wort hat beim Bürgermeister geholfen und hätte er auch jedes einzelne davon in jede Sprache der Welt übersetzt: Es hätte nichts gebracht. Aber doch hilft sie ihm, seine Erstsprache, hinweg über hunderte Kilometer Getrenntsein von denjenigen, die er schützen will, die er vermisst. Die deutschen Sätze, Phrasen, Vokabel übt er im Gespräch mit Zeitungskäufern; nutzt er, um nicht zu vereinsamen. Das Englische? Hat er für sich gelernt. Für die Freude daran. Aber jetzt gerade hilft alles nichts. Verzweifelt starrt er das grelle Rot der Leuchtreklame an. Er hat ein Fundament für ein 4×4-Meter-Zimmer gebaut. Hat das Zimmer fertiggestellt, sogar einen Boden verlegt. Und trotzdem hält der Stolz sich hinter Gegenwartssorgen verborgen. Wenn Verzweiflung einen Gesichtsausdruck hätte, wäre ein Teil davon seiner.

Nein, nicht so düster denken! Er hat Übung darin, sich Hoffnung zu geben. Den dunklen Horizont gegen einen hellen zu tauschen. Am Ostersonntag, in zwei Tagen, wird er gemeinsam mit Frau und Kindern um den Tisch sitzen und essen und lachen; es wird Lamm mit Leber geben und Miel Special und Sermale Friptura, in Kohlblätter gepacktes, gerolltes, gewickeltes Faschiertes. Während er an das Festessen mitsamt den buntgefärbten Eiern denkt und ihm dabei die Augenlider wieder zufallen, scheucht draußen der Fahrer seine Gäste zum Einstieg, dämpft seine Zigarette aus, wirft sie in den Aschenbecher und steigt als letztes in den Bus ein. Türen zu. Er hält immer noch das Papierchen zwischen den Fingern, das Stückchen Freude auf Zuhause. Seine Sitznachbarin setzt sich neben ihm, als der Fahrer den Motor startet. Er schreckt hoch und sie sagt: Was halten Sie davon, wenn Sie