„Ich wünsche mir, wieder ein junger, gesunder Bursche zu sein“

 

von Andrea Niederfriniger

Ich warte in der Lounge des Hotels Auersperg. Dort wird das Interview mit Ion Rafira stattfinden, einem Mann aus Rumänien, der vor 15 Jahren nach Salzburg gekommen ist und hier die Straßenzeitung Apropos verkauft. Ich weiß noch nicht, wie alt er ist, auch nicht, was ihn nach Salzburg verschlagen hat. Das Schicksal jenes Mannes, der in Kürze hier auftauchen wird, ist jedoch sicherlich nicht geprägt von einer harmonischen Kindheit in einer finanziell mehr oder weniger abgesicherten Familie. Sicher auch nicht von einer erfüllten Arbeit, einer fairen Chance auf Bildung oder einer guten medizinischen Versorgung.

Das Glas Wasser, das man in Österreich meist zum Kaffee bekommt, steht noch vor mir, die leere Cappuccino-Tasse ist längst abgeräumt. Die Sessel sind weich, gedämpftes Licht und leise Musik verströmen eine angenehme und wohlige Atmosphäre. Mit meinen Notizen in der Hand fühle ich mich sicher und gut für das Interview vorbereitet. 

Ion ist pünktlich, er kommt in Begleitung der Dolmetscherin. Ion wirkt schüchtern, im Laufe des Interviews wird er öfters sagen, dass er ein scheuer Mensch ist. Keiner, der aus sich rausgeht. Heute gibt er zum ersten Mal in seinem Leben ein Interview, deshalb sei er aufgeregt, aber er freue sich, dass jemand an seiner Geschichte interessiert sei. Außer mit seinen Sozialarbeiterinnen bei der Caritas habe er noch nie mit jemandem über sein Leben gesprochen, übersetzt die Dolmetscherin. Das Wasserglas vor ihm bleibt lange Zeit unberührt, erst gegen Ende des Gesprächs nimmt er einen ersten Schluck und dann noch einen.

Ich frage ihn nach seiner Kindheit. Davor schien es, als würde es ihm schwerfallen, die richtigen Worte zu finden. Doch bei dieser Frage sprudelt es nur so aus ihm heraus. Er erinnert sich an eine glückliche Kindheit, er habe alles gehabt, was er sich nur wünschen konnte. Dieser Satz lässt mich kurz hoffen, dass Ion zumindest als Kind eine glückliche Zeit verbringen durfte. Schnell wird jedoch klar, dass Ions Maßstäbe bei „alles haben, was man sich wünscht“ andere sind als meine Vorstellungen von einer unbeschwerten Kindheit. Tatsächlich kann Ion weder lesen noch schreiben, auch nicht auf Rumänisch. Einige wenige Bruchstücke sind es nur, die er beherrscht. Die deutsche Sprache versteht er im Ansatz, sprechen fällt ihm schwer.

Damals in Rumänien war Ions Vater das Oberhaupt der Familie: „Er hatte eine gute Arbeit und brachte gutes Geld nach Hause. Doch dann ist er plötzlich gestorben und alles hat sich verändert, vieles zum Schlechten.“ Ions abruptes Schweigen nach diesem Satz lässt keine weiteren Nachfragen zu. Heute leben in Rumänien noch Ions Schwester und ein Bruder. Beide führen jedoch ihr eigenes Leben. Zwischen den Zeilen meine ich herauszuhören, dass er dort nicht willkommen ist. Auch nicht bei seiner früheren Frau, die mit den zwei gemeinsamen Kindern, die 14 und 18 Jahre alt sind, in Rumänien lebt. Seine Söhne gehen in die Schule und sprechen sogar Englisch, berichtet er mit Stolz in der Stimme. Seine Ex-Frau kümmere sich um die Ausbildung der Kinder, übersetzt die Dolmetscherin. Während unseres Gesprächs klingelt sein Telefon, er schaut kurz drauf und lächelt. Manchmal telefoniere er mit seinen Kindern, meistens würden sie aber nur über belangloses Zeug reden. Vorhin habe sich sein Sohn gemeldet. Er brauche Geld, meint Ion. Geld, das er selbst auch dringend benötigt. Ion ist auf seinem rechten Auge blind. Es wurde bei einem Arbeitsunfall in Rumänien durch herumfliegende Holzsplitter verletzt und wohl nie behandelt. In jeder Sekunde seines Lebens habe er Schmerzen. Oft wünsche er sich, das Auge ganz entfernen zu können, nur um endlich schmerzfrei zu sein. Die Schmerzen ziehen sich über die gesamte rechte Gesichtshälfte bis hinunter zum Kiefer. Hinzu kommt, dass Ion an Diabetes leidet. Die Krankheit wurde vor fünf Jahren durch einen Zufall entdeckt. Damals haben ihn Sozialarbeiter:innen mit starken Zahnschmerzen zu den Barmherzigen Brüdern gebracht. Dort wurde die Zuckerkrankheit entdeckt. Doch die habe er im Griff, meint er. Drei Mal täglich muss er sich eine Insulinspritze verabreichen, die lebensnotwendige Medizin bekommt er von den Barmherzigen Brüdern.

„Ein Leben ohne Schmerzen wäre schön“

Im Verlauf unseres Gesprächs bedankt sich Ion immer wieder für das Interview. Tiefe Dankbarkeit empfindet er auch für das Apropos-Team und speziell für Apropos-Chefredakteurin Michaela Gründler. Er erzählt, dass sie ihn vor vielen Jahren an einer Straßenecke zur Rede gestellt habe, als er ohne Ausweis und somit ohne Erlaubnis Apropos-Zeitungen verkauft hat. Sie habe ihm dann die Bedingungen für einen Apropos-Verkauf erklärt und später einen richtigen Ausweis besorgt, sodass er ganz legal Zeitungen verkaufen durfte. Für diese Chance, Geld zu verdienen, ist Ion ihr unendlich dankbar. Nachdenklich fügt er hinzu, dass es am Anfang sehr ungewohnt für ihn gewesen sei, zu fremden Menschen „Guten Morgen“ zu sagen. „Die ganze Situation war sehr beschämend für mich.“ Aber mit der Zeit habe er sich daran gewöhnt. „Die meisten Menschen, die mir begegnen, haben ein großes Herz und teilen mit mir, auch wenn sie selbst nicht so viel haben. Ich bin in den vergangenen Jahren sehr vielen großzügigen Menschen begegnet und bin ihnen sehr dankbar für alles, was sie für mich getan haben.“

Ion ist 37 Jahre alt, er hat keinen festen Schlafplatz. Manchmal jedoch, wenn ein Platz frei ist, kommt er im Haus Franziskus unter. Apropos verkauft er meist im Zentrum von Bad Reichenhall. Er hat keinen fixen Platz, sondern „wandere“, wie die Dolmetscherin übersetzt. Er erzählt, dass er auch schon mal von Menschen angeschrien wurde, die dann aber wieder zurückkamen, um sich zu entschuldigen. „Ich verstehe das, denn jeder Mensch durchlebt irgendwann schwere Zeiten. Man ist nicht immer gleich. Und auf der Straße geschehen nun mal viele Dinge, auch unschöne Dinge“, fügt Ion hinzu.

„Ich wünsche mir, wieder ein junger, gesunder Bursche zu sein“

Auf meine Frage hin, was ihm tagtäglich aufs Neue Kraft gibt, antwortet er: „Ohne Gott kann man gar nichts machen. Der Glaube gibt mir Kraft. Viel Geld nützt dir nichts, wenn Gott dir nicht hilft.“ Sein kaputtes Auge setzt ihm allerdings sehr zu: „Wenn du in der Früh aufstehst, krank bist und Schmerzen hast, dann kannst du nichts machen. Dann bist du für nichts gut.“ Am Ende des Gesprächs frage ich ihn nach einem Wunsch, wenn er denn einen frei hätte. Tatsächlich fällt seine Antwort prompter aus als erwartet: Er wünsche sich, jener gesunde Bursche zu sein, der er früher einmal war. „Ich brauche nicht viel zum Leben, aber gesund zu sein ist wertvoller als alles andere.“

Als wir uns voneinander verabschieden, sagt er: „Ich möchte mich bei allen bedanken, die mir mit ihren kleinen und großen Spenden helfen. Ich bin Apropos unendlich dankbar dafür, dass ich Geld verdienen kann. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich ohne Versicherung die Medikamente bekomme, die ich zum Überleben brauche. Dafür bin ich sehr dankbar.“