A simple life
von Walter Anichhofer
Meistens wissen wir nicht, woher die geflüchteten Menschen zu uns kommen und welchen Weg sie hinter sich haben. Wenn wir einen Menschen mit dunkler Hautfarbe sehen, beschleichen uns oft Gefühle des Unbehagens und der Irritation. Alusine, der mir gegenübersitzt, bestätigt mir diese Erfahrung. Auf den ersten Blick, sagt er, könne man das Gefühl haben, dass es in Salzburg viele Rassisten gebe. Er kenne diese Blicke. Und es ist ihm wichtig, diesen unbehaglichen und irritierten Blicken mit Freundlichkeit und einem Lächeln zu begegnen, damit die Menschen die Möglichkeit haben, ihre Vorurteile, insbesondere das, alle Menschen mit dunkler Hautfarbe seien kriminell, überdenken und verändern zu können. Und er erzählt davon, dass es ihm beim Verkaufen der Apropos-Zeitung meistens gelinge, die Menschen mit seinem Lächeln und seiner Freundlichkeit zu einem Umdenken einzuladen. Ich denke, dass ihm sogar mehr als das gelingt. Seine Freundlichkeit und sein Lächeln kommen von Herzen.
Alusine möchte vor allem glücklich sein. Er spricht viel von Happiness. Er machte im Laufe seines Lebens so viele schwierige und unangenehme Erfahrungen, dass es ihm nun wichtig ist, seinen Fokus auf Happiness zu richten und dieses Gefühl von Glück auch mit anderen Menschen zu teilen. Und sein ganz persönlicher Schlüssel zu Happiness ist, dieses Gefühl von Glück in sich selbst zu entwickeln und zu spüren. Alusine tut auch viel dafür, dass es ihm gut geht. Er steht früh am Morgen auf, macht täglich seine Übungen, um fit zu bleiben und Kraft zu tanken, und geht anschließend in die Schule. Nach der Schule fährt er nach Eugendorf, um dort vor dem Sparmarkt Putz Apropos zu verkaufen. Am frühen Abend kommt er nach Hause, kocht sich etwas zu essen und geht zeitig schlafen. Er sagt, dass Zeit alles sei, was er habe, und daher wolle er die Zeit, die er habe, auch gut nützen. Am Wochenende macht er noch mehr Sport, geht auch Laufen und telefoniert mit seiner Familie.
Alusine, 36 Jahre alt, hat ein sehr freundliches und offenes Wesen. Er kommt aus Kalangba Wallah, ein kleines Dorf in der Northern Province in Sierra Leone. Sierra Leone liegt in Westafrika am Atlantischen Ozean und ist von Guinea und Liberia umgeben. Es ist etwa so groß wie Österreich und hat auch ungefähr so viele Einwohner. Sierra Leone hat einen langen Bürgerkrieg hinter sich, und der Alltag und das Leben der Menschen sind von Gewalt geprägt. Alusine sagt, dass die Menschen dort sehr viel Wut in sich tragen und dass das auch spürbar sei. Sierra Leone ist ein Land, das durch seine Diamant- und Goldminen eigentlich sehr reich sein müsste, aber in dem die meisten Menschen in bitterer Armut leben. Ich muss an meine Mutter denken, die mich schon öfters gefragt hat, warum so viele Afrikaner zu uns nach Europa kommen. Ich sage immer dasselbe: Weil wir, die reichen Nationen, den afrikanischen Kontinent noch immer ausbeuten und die dortige Wirtschaft noch immer destabilisieren. (Nur als ein Beispiel: Viele Landwirte in Afrika leiden unter den billigen Lebensmitteln, die aus der EU importiert und von der EU subventioniert werden.)
Alusine musste sein Land verlassen, weil sein Leben in Gefahr war. Das Leben in Sierra Leone wird auch heute noch vom Poro Geheimbund bestimmt, dessen Gesetze stärker wiegen als die Gesetze des Landes. Das bedeutet, dass die gesamte einheimische Bevölkerung seiner Gerichtsbarkeit untersteht. (Der Poro-Geheimbund ist für Männer, der Bundu-Geheimbund für Frauen.) Wenn man sich den Regeln eines Geheimbundes in irgendeiner Weise widersetzt, ist das eigene Leben schnell in Gefahr. So erging es auch Alusine. Er hatte die Beschneidung seiner Lebensgefährtin verhindert und musste daraufhin fliehen. Nach seiner ersten Flucht landete er in Griechenland und wurde nach Sierra Leone zurückgeflogen. Er wurde aufgedeckt, musste erneut fliehen und kam nach einer mehrjährigen Odyssee 2017 nach Salzburg. Seit 2018 verkauft er Apropos. Am Nachmittag. Am Vormittag geht er zur Schule, er macht in der Volkshochschule seinen Pflichtschulabschluss. Einige seiner Schulkollegen sind in seinem Alter, ein paar sind älter als er, der jüngste ist 17. Ich bewundere seine positive Einstellung und seine Zielgerichtetheit. Es braucht sehr viel Kraft und Vertrauen nach all den Geschehnissen, vertrauensvoll und zuversichtlich in die Zukunft zu gehen. Alusine hat diese Kraft und dieses Vertrauen. Auch Dank seines Glaubens, der ihm viel Stärke gibt.
Alusine nützt jede Chance, die sich ihm bietet. Er wartet jetzt seit zwei Jahren auf eine Nachricht bezüglich seines zweiten Asylantrags; der erste wurde abgelehnt. Zuerst hat er begonnen, Deutsch zu lernen. Er hat die Kurse A1 und A2 abgeschlossen. Er hat auch schon für das Magistrat Salzburg drei Wochen lang beim Gartenamt gearbeitet. Die Arbeit hat ihm gut gefallen, und seine Kollegen waren sehr nett zu ihm. Und jetzt geht er in die Schule. Auch wenn ihm das Lernen nicht so leicht falle, wie er selbst sagt, bin ich davon überzeugt, dass er den Pflichtschulabschluss schafft. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass er noch viel mehr schaffen wird. Ich wünsche ihm, dass er für seinen zweiten Asylantrag einen positiven Bescheid bekommt.
Was er sich noch wünscht? A simple life, sagt er. Er habe alles, was er brauche: eine Beschäftigung, ein Bett, etwas zu essen. Und er könne seine Rechnungen bezahlen. Und wenn er am Ende des Monats noch etwas übrig hat, schickt er es nach Hause oder hilft Freunden. Und nach der Schule? Er sagt, er habe viele Ideen. Vielleicht Maler werden oder Schweißer oder vielleicht auch Koch. Mal sehen. Bevor er mehr darüber nachdenkt, möchte er lieber doch die Entscheidung bezüglich seines zweiten Asylantrags abwarten. Er sagt: „Sei glücklich in dem, was du tust! Life is all about happiness and engagement. Then you are safe.“
Auf dem Nachhauseweg vom Gespräch mit Alusine denke ich mir, dass es bereichernd für uns alle hier in Österreich wäre, die geflüchteten Menschen, die zu uns kommen, besser kennenzulernen. Wir würden alle miteinander unsere Vorurteile überdenken oder sogar abbauen können. Und wir würden dem freundlichen Wesen von Menschen wie Alusine ebenfalls mit Freundlichkeit begegnen – und vielleicht sogar mit einem Lächeln.