
Zum Arbeiten in der Stadt
Ein Gespräch mit Apropos-Verkäufer Gheorghe Crăciun.
von Thomas Assinger
Auf Rumänisch bedeutet sein Nachname Weihnachten. Als unsere Dolmetscherin Doris Welther mich darauf hinweist, lächelt er. Diese Bedeutung ist ihm lieb, denn Gheorghe Crăciun ist ein gläubiger Mann. Er spricht offen: Im Vorhinein habe er sich überlegt, ob er zu einem solchen Treffen überhaupt kommen und von sich erzählen soll. Kollegen hätten ihm berichtet, dass in den Artikeln manchmal nicht genau das drinstehe, was man im Gespräch erzählt habe. Reden, Übersetzen, Zuhören und Aufschreiben, das kann trotz bester Absichten schnell zur stillen Post werden – darin sind wir uns einig. Ihm selbst komme es darauf aber eigentlich gar nicht an. Herr Crăciun hat einen anderen Beweggrund für das Interview.
Seit gut einem Jahr verkauft der 57-Jährige die Straßenzeitung Apropos in Salzburg. Morgens macht er sich von der Notschlafstelle der Caritas, wo er die Nacht verbringt, auf zu seinem Arbeitsplatz. Er nimmt den Bus, immer mit gültigem Fahrschein, wie er betont. Die Obuslinie 1 bringt ihn zur Maxglaner Hauptstraße. Dort richtet er sich vor der Billa-Filiale mit einem Sessel, den er in der Nähe versteckt hält, ein und wartet. Die Vorbeikommenden grüßt er mit „Morgen“ oder „Hallo“, mehr nicht. Offensivere Verkaufsstrategien kommen für ihn nicht infrage. Er wisse von Kollegen, dass kaufmännischer Eifer sich nicht bezahlt mache. Allzu große Aktivität würde Verkäuferinnen und Verkäufern von Straßenzeitungen oft als Aufdringlichkeit ausgelegt. Das sei geschäftsschädigend. Abgesehen davon würden ihm für Verkaufsgespräche auf Deutsch ohnehin die Worte fehlen und es sei, sagt er, auch einfach nicht seine Art. Das merke ich ihm an. Gheorghe Crăciun wirkt diskret – nicht schüchtern, aber höflich und zurückhaltend.
Früher verdiente er sein Geld daheim in Rumänien mit Korbflechten und Besenbinden. Das hatten ihm seine Eltern beigebracht. Als die Nachfrage auf den nahgelegenen Märkten durch die Konkurrenz industriell gefertigter Ware weggebrochen ist, war damit Schluss. Herr Crăciun kommt aus der Gegend von Pitești. Vier Jahre lang ging er dort in die Schule, Beruf hat er keinen gelernt. Andere Arbeit war für ihn nicht zu finden, also ist er nach Salzburg gekommen, wo schon Bekannte von ihm waren.
Neben den Kollegen von Apropos sind solche Bekannten von daheim seine Gesellschaft in der Stadt. Man trifft sich am Wochenende und manchmal nach der Arbeit. Für den Platz vor der Billa-Filiale in Maxglan entschied er sich, als dort ein Verkaufsplatz frei wurde. Über diese Entscheidung freut sich Gheorghe Crăciun. Er agiere in bestem Einvernehmen mit dem Personal und stets korrekt. Wenn eine Kundin oder ein Kunde etwas im Einkaufswagen liegen lasse, bringe er es zur Kassa.
Ein Arbeitstag vor dem Supermarkt kann lang werden. Herr Crăciun sieht viele verschiedene Menschen. Tagein, tagaus gehen sie an ihm vorüber. Das erhöht die Menschenkenntnis. Er habe mit der Zeit eine recht gute Intuition entwickelt und ahne meist schon vorab, wer auf ihn zukommen und ihm ein Exemplar abkaufen wird. Woran er potenzielle Käuferinnen und Käufer erkennt, kann er nicht sagen, er weiß das einfach. Stammkunden gibt es auch, auf die freue er sich jedes Mal, wenn er eine neue Ausgabe in der Tasche hat.
Musik hört Gheorghe Crăciun während der Arbeit keine, auch telefoniert er nicht, es sei denn, seine Frau ruft aus Rumänien an. Zum Zeitvertreib tut sie das nicht, wenn, dann gibt es etwas zu besprechen. Die beiden haben ein 3 × 3 Meter großes Einzimmerhaus, das seine Eltern gebaut haben. Dort ist er mit sieben Geschwistern aufgewachsen. Heute stehen darin zwei Betten. In einem schläft seine Frau, im anderen er, wenn er daheim ist, und bei ihnen drei Enkel. Das sind die Kinder ihrer jüngsten Tochter. Sie ist vor vier Jahren weggegangen, Herr Crăciun und seine Frau wissen nicht, wo sie heute ist und wie es ihr geht. Das ist eine der Sorgen, die ihm Tag für Tag im Kopf sitzen. Mit Mitte fünfzig müssen er und seine Frau sich noch einmal als Eltern bewähren. Leicht fällt ihnen das nicht, sie haben beide gesundheitliche Probleme und das Geld, das er nach Hause schicken oder auf seinen Besuchen mitbringen kann, reicht vorne und hinten nicht. Das Dach ihres Hauses ist undicht, weshalb ihnen vor einiger Zeit der Strom abgedreht wurde; fließend Wasser gibt es nicht, geheizt und gekocht wird mit einem Holzofen. Brennstoff kaufen sie von umherfahrenden Pferdefuhrwerken. Aushelfen kann niemand. Die Kinder sind verheiratet und weggezogen, von seinen Geschwistern lebt keines mehr in der Nähe, die Eltern sind lange tot, zu erben gab es nichts außer Armut und Aussichtslosigkeit.
Kraft zum Wünschen oder Träumen ist Herrn Crăciun kaum noch geblieben. Mit Blick auf sich selbst ist er Realist. Gefragt, ob er ein Lieblingsessen habe, das man ihm aus dem Supermarkt mitnehmen könne, meint er, dass eine Semmel satt mache. Einen Wunsch hat er dann aber doch. Und der ist, in Anbetracht der Verhältnisse, über die er sich keine Illusionen macht, kein kleiner. Er möchte genug Geld zusammensparen, um das Dach seines Hauses abdichten und wieder Strom bekommen zu können. Und vom Wasseranschluss an der Straße möchte er eine Leitung ins Haus legen. Seine Frau und seine Enkelkinder sollen ein Bad haben. In dieser Sache vertraut er, wie er sagt, auf Gott. Dieses Vertrauen halte seine Hoffnung lebendig und ihn am Tun. Um drei oder vier Uhr am Nachmittag packt er nach getaner Arbeit seine Tasche, schafft seinen Sessel außer Sicht und steigt in den Bus, der ihn wieder zur Notschlafstelle bringt, bei gutem Wetter manchmal noch auf eine kurze Unterhaltung zum Bahnhof oder in einen Park.
Was er sich von dem Artikel erwarte, frage ich ihn zum Schluss, ob etwas Bestimmtes unbedingt drinstehen solle. Er lässt mir freie Hand. Nur von seinem Haus in Rumänien soll ich auf jeden Fall berichten. Vielleicht sei der Text eine Chance, mehr Menschen auf ihn und sein Zeitungsangebot aufmerksam zu machen, sie zum Kauf zu animieren. Und nicht erst, als ich höre, wie viele Exemplare von Apropos er heute bereits verkauft hat (keines!), wünsche ich ihm von Herzen mehr Kundschaft.