Zwischen Nähe und Distanz
Im Laufe eines Lebens lernt man nicht nur sich, sondern auch andere Menschen besser kennen. Es ist wie ein Tanz zwischen Hingabe und Rückzug. Die Salzburger Psychotherapeutin Renate Frühmann erzählt im Apropos-Gespräch über unterschiedliche Nähebedürfnisse, die Kraft des Miteinanders und das Gefährliche an einer staatlich verordneten Solidarität.
Titelinterview mit Psychotherapeutin Renate Frühmann
von Chefredakteurin Michaela Gründler
Was bedeutet für Sie nah?
Renate Frühmann: Nähe ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Kulturen, in denen die Kinder dorfnah, lebensnah, gruppennah oder körpernah aufwachsen, haben eine andere Ausbildung von Nähe wie in individualismuszentrierten Gesellschaften, wo die Distanz, die Autonomie und die Selbstverwirklichung stark betont werden.
Wie kommt man sich selbst nah?
Renate Frühmann: Durch Selbstentdeckung und durch den Spiegel im Außen. Je deckungsgleicher mein Selbstgefühl und das, was mir zugeschrieben wird, ist, umso sicherer fühle ich mich als Person und in meiner Identität. Das sind Reifungsschritte im Laufe eines Lebens. Die Pubertät ist eine der großen Chancen, sich selbst neu, anders und in der Reibung mit der Gesellschaft zu entdecken. Es geht da nicht mehr darum, dass brave, angepasste Kind zu sein, eingebettet in eine Familie, sondern auszuprobieren, wer ich bin. Je toleranter eine Gesellschaft ist, umso mehr Erfahrung kann ein Jugendlicher machen. Dabei ist es jedoch wichtig, an Grenzen zu stoßen, die andere setzen. Denn erst, indem ich mich mit den Vorstellungen und Werten anderer auseinandersetze, erfahre ich meine eigenen.
Was ist die Herausforderung bei der Nähe?
Renate Frühmann: Der Mensch hat zwei unterschiedliche Bedürfnisse: Nähe und Distanz, Bindung und Autonomie. Die Gestaltung der Nähe ist dabei familiär unterschiedlich geprägt. Es gibt Familienkulturen, in denen man sich knuddelt, in anderen wird mehr Wert auf intellektuelle Nähe gelegt, wieder andere stellen Verbundenheit durch Sport her. Da wir Menschen unterschiedliche Vorstellungen von Nähe haben, liegt die Herausforderung darin, wie sich diese Nähe- und Distanzvorstellungen miteinander verbinden und realisieren lassen.
Wie gelingt dieses Wechselspiel von Nähe und Distanz?
Renate Frühmann: Indem wir in Kommunikation treten über unsere Sehnsüchte, Bedürfnisse und Vorstellungen von Nähe. Erst durch ein wechselseitiges Verständnis kann Intimität erzeugt werden. Ohne Bereitschaft von Kommunikation oder von Toleranz für die Andersartigkeit meines Gegenübers kann eine Beziehung nicht gelingen. Dialog ist die Basis nicht nur von Beziehungen, sondern überhaupt von demokratischen Strukturen. Demokratie heißt nichts anderes als in Dialog treten, in Streit treten, in die Auseinandersetzung treten, in gemeinsames Verhandeln treten.
Wie lässt sich das Sich-Auseinandersetzen stärken?
Renate Frühmann: Am besten, wenn das in der eigenen Familie gelebt und weitervermittelt wurde. Allerdings liegt auf vielen Familien ein hohes Belastungspotenzial. Wenn die Eltern ganztägig berufstätig oder auch alleinerziehend sind, gibt es abends wenig Ressourcen, sich zusammenzusetzen und den Tag Revue passieren zu lassen. Diese gemeinsame Zeit ist aber notwendig, damit Diskurs, vielleicht auch Streit, aber auch Empathie entsteht.
Wann schleicht sich in einer Beziehung Entfremdung ein?
Renate Frühmann: Entfremdung entsteht im Sich-wieder-fremd-Werden durch Gewöhnung, Enttäuschung oder durch verschiedene Lebensaufgaben – beispielsweise wenn sich einer der Partner weiterentwickeln will, während der andere beim Gewohnten bleiben möchte. Wenn die Interessen unterschiedlich werden, braucht es viel Austausch und neue Arrangements, um mit den neuen Bedürfnisunterschieden gut umgehen zu können.
Wie lassen sich Risse in Beziehungen wieder kitten?
Renate Frühmann: Das hat mit dem Geheimnis „Solange Liebe da ist, ist Chance da“ zu tun. Da ist oft ein hohes Toleranztraining für jeden der beiden erforderlich. Man muss immer wieder an das anknüpfen, was die Beziehung zusammenhält. Sich immer wieder bewusst machen, was einen verbindet, und dieser Verbundenheit einen Raum zu geben und sie wieder sichtbar werden zu lassen, sodass sie nicht in Problemen, Krisen und Mankos steckenbleibt. Es ist normal, dass Nähe immer wieder auf dem Prüfstand der Herausforderungen des Lebens steht.