Zuhause in der Ferne

 

von Matthias Gruber

 

Fragt man Ion Firescu nach dem Geruch seiner Kindheit, muss er nicht lange nachdenken. Der Duft von frischem Heu und schwerer Sommerhitze sei das für ihn, sagt er, der Landmensch, der schon als Kind mit seinem Großvater aufs Feld gefahren ist. Aufgewachsen sei er in einem kleinen Dorf in der Walachei, keine 25 Kilometer entfernt von der Stadt Pitești, wo die Dacia-Werke Autos für ganz Europa produzieren und die Armut trotzdem allgegenwärtig ist.

Neugierig und wissbegierig sei er als Kind gewesen, erzählt Ion, und dass er gerne weiter in die Schule gegangen wäre. Stattdessen endete seine Laufbahn mit sechzehn Jahren – wie für viele andere – in der Arbeitslosigkeit. Die Aufnahmeprüfung für einen Betrieb in der Gegend habe er zwar beinahe mit Bestnoten geschafft – trotzdem reichte es am Ende nicht für einen der begehrten Arbeitsplätze. Und so suchte der junge Mann sein Glück bald in der Ferne, fuhr mit auf Baustellen, arbeitete schwarz und landete schließlich in Salzburg.

Seitdem existieren zwei Welten im Leben des Ion Firescu. Die eine ist das Dorf seiner Kindheit, der alte Bauernhof, wo das Gras herrlich duftet und die Armut einer Generation alle Chancen geraubt hat. Dort leben seine drei Kinder: Sidonia (14), Sagar (11) und der Nachzügler Benjamin (1). Die andere Welt ist hier in Salzburg, wo Ion seit 2011 als Verkäufer für Apropos arbeitet – meistens an seinem Stammplatz in Neumarkt. Verbunden sind diese beiden Welten durch ein altes Smartphone mit zerkratztem Display, auf dem Ion die Fotos seiner Kinder gespeichert hat.

Man sieht es ihm nicht an, dem Mann mit den gepflegten Haaren und der sportlichen Trainingsjacke, dass er seine Nächte meist im Freien verbringt. Und dass er in all den Jahren nie ganz in Salzburg angekommen ist. Weil es einen Teufelskreis gibt, der von außen schwer zu begreifen ist: ohne Job keine Wohnung, ohne Wohnung kein Meldezettel, ohne Meldezettel kein Job. Und weil es am Ende des Tages eine Rechnung ist, die aufgehen muss: Mit dem Geld, das er in Salzburg verdient, unterstützt Ion seine Kinder. Ihnen, so sagt er, soll finanziell nichts im Wege stehen. Sie sollen in die Schule gehen können. Doch was bliebe am Monatsende für sie übrig, wenn er in Salzburg Miete, Strom und Gas bezahlen müsste? Zu wenig. Also schläft Ion meistens auf der Straße, manchmal in der Caritas-Notschlafstelle, früher auch in leerstehenden Häusern, als das noch möglich war.

In Salzburg zu wohnen, sagt Ion, sei Luxus. Sogar ein Abrisshaus koste hier Geld. Das Schlafen auf der Straße dagegen sei für ihn längst Normalität. Manchmal würden ihn Stammkunden fragen, wie er es anstelle, selbst im Winter bei Minusgraden nicht krank zu werden. Alles nur eine Frage der Gewöhnung, sagt Ion dann und erzählt von Nächten, in denen die Polizei ihn und die anderen Männer aus seiner Gruppe alle zwei Stunden von ihrem Schlafplatz vertreibe.

Und doch hört man von Ion kein schlechtes Wort über die Stadt, in der er nun seit über zehn Jahren lebt, ohne wirklich Zuhause zu sein. Er möge Salzburg und seine Menschen, fühle sich hier gut aufgehoben. Ion ist gerne hier und bleibt immer genau so lange, bis wieder einmal genug Geld da ist für ein Busticket nach Hause, zu den Kindern und zu seiner Frau, die seit Benjamins Geburt in Rumänien geblieben ist und nun wohl auch bald wieder nach Salzburg kommen wird, um Zeitungen zu verkaufen. Die Kinder blieben dann bei der Tante, erzählt Ion. Nicht alle hätten dieses Glück, ergänzt die Dolmetscherin aus eigenen Stücken, und dass sie selbst Familien kenne, in denen sich Zehnjährige wochenlang alleine durchschlagen müssten, von ihren abwesenden Eltern mit nichts als ein paar Litern Öl und einem Sack voller Maismehl versorgt.

Auch das Zeitungverkaufen habe sich in der Coronapandemie verändert, erzählt Ion. Die Stammkunden, die so wichtig sind für einen Apropos-Verkäufer, blieben während der Lockdowns plötzlich aus, die Straßen leer. Fatal für einen, der davon lebt, dass Menschen zusammenkommen – nicht irgendwo im Internet, sondern im Gegenüber, im Gespräch, auf der Straße. Die Bustickets nach Neumarkt waren trotzdem zu bezahlen und kosteten an manchen Tagen in dieser Pandemie fast so viel, wie er einnehmen konnte.

Eine Zeitlang sei dann gar nichts mehr gegangen. Also blieb Ion zum ersten Mal seit über 20 Jahren längere Zeit Zuhause, fuhr zum ersten Mal nicht mit dem Bus nach Salzburg, sah zum ersten Mal eines der Kinder aufwachsen. Und musste am Ende doch wieder weg, weil die wirtschaftliche Not zu sehr drückte. Denn auch wenn er Pläne macht, bleibt es doch ein Leben von einem Tag auf den anderen. Wenn er könnte, würden ihn keine zehn Pferde von Zuhause wegbringen, sagt Ion, und weiß doch, dass er noch eine ganze Weile nach Salzburg kommen wird.