Zuerst durch den Tunnel, dann ans Meer
Verkäuferin Evelyne wird ab dem Frühjahr 2023 eine eigene Stadtführung für Apropos machen. Sie erzählt im Jubiläums-Titelinterview von ihren Anfängen bei der Straßenzeitung, ihrer Liebe zu ihrem Mann Georg und wie sie von ihrer Spielsucht losgekommen ist.
Titelinterview mit Verkäuferin Evelyne Aigner
von Chefredakteurin Michaela Gründler
Evelyne, Du verkaufst mittlerweile seit 23,5 Jahren die Salzburger Straßenzeitung. Wie bist Du dazu gekommen?
Evelyne Aigner: Eigentlich habe ich schon 1998 von der Salzburger Straßenzeitung erfahren – über Verkäuferin Luise. Ich habe das aber dann wieder vergessen. Erst 1999, nachdem mein erster Mann ins Gefängnis gekommen ist, ist mir die Zeitung wieder eingefallen. Ich habe mir gleich einen Ausweis besorgt und bin verkaufen gegangen. Damals habe ich viel Zeit im Saftladen verbracht, das ist eine Tageseinrichtung vom Verein Neustart – und die Sozialarbeiter haben mich motiviert, in der Zeitung zu schreiben, weil die Schreibwerkstatt früher dort stattgefunden hat. Auch die Straßenzeitung konnte man damals im Saftladen kaufen. Das war im Juni 1999. So hat meine Zeit bei Apropos angefangen.
Was hast Du davor gemacht?
Ich habe Kurse vom AMS besucht und war beim BFZ – das ist eine Einrichtung, in der sich Menschen fortbilden können, die psychische Erkrankungen oder Suchtprobleme haben. Ich habe viel probiert, war auch in den Geschützten Werkstätten, aber das ging auch nicht. Mir war die Arbeit zu anstrengend. Man hat Stunden durcharbeiten müssen, das habe ich nicht geschafft. Wenn sie gesagt hätten, fangen wir mit zwei Stunden an oder mit drei – dann wäre es vielleicht gegangen. Aber so war mir das zu stressig. Ich bekam Panikattacken und habe dann wieder aufgehört. Beim Zeitungverkaufen ist es mir aber von Anfang an immer gut gegangen.
Weshalb liegt Dir das Zeitungsverkaufen so im Blut?
Es hat mir immer schon gefallen, mit Leuten zu reden! Das kann ich beim Zeitungsverkauf richtig gut ausleben.
Du wirst innerhalb des Apropos-Teams oft als rasende Reporterin beschrieben, weil Du meistens als erste von Dingen erfährst. Wie machst Du das?
Ich kenne viele Leute und ich plaudere gerne mit ihnen. Ich frage sie immer, was los ist, daher erfahre ich auch viel von ihnen. Und immer, wenn ich bei Apropos bin, erzähle ich halt, was ich weiß. Daher nennen mich einige auch Paparazza (lacht).
Mit 4.000 Freunden auf Facebook und vielen Followern auf Instagram bist Du eine unserer bekanntesten Verkäufer:innen. Was gefällt Dir an den sozialen Medien?
Dass ich posten kann über das, was ich bei Apropos alles mache. Und dass die Leute antworten und mir sagen, wie toll sie das finden. Ich bin gerne gut informiert und mich interessiert, was andere Menschen so machen und denken.
Seit 2006 ist auch Dein Mann Georg als Verkäufer bei Apropos. Während seiner Haft habt Ihr Euch 2.000 Briefe geschrieben. Mittlerweile seid Ihr seit 15 Jahren verheiratet – was ist das Erfolgsrezept Eurer Ehe?
Als der Georg im Gefängnis war, war das hart für uns beide. Wir haben uns ja erst drei Monate davor kennengelernt. Dennoch habe ich sieben Jahre auf ihn gewartet und zu ihm gehalten. Als er 2006 entlassen wurden, haben wir beschlossen, zu heiraten. Am 21. April 2007 war es dann soweit und wir haben im Schloss Mirabell geheiratet. Ich war davor schon einmal verheiratet und konnte mir anfangs gar nicht vorstellen, dass ich für eine Ehe geschaffen bin. Wir hatten auch viele Höhen und Tiefen miteinander – und doch haben wir uns immer wieder zusammengerauft. Ich bekam mit dem Spielen an Automaten Probleme, doch Georg stand hinter und half mir, davon loszukommen. In all den Jahren hat mir ein Satz geholfen, den er oft wiederholt: „Denk immer daran, wie alles begann.“ Und das tue ich: Ich denke oft an unsere Anfänge und daran, was wir alles geschafft haben. Jetzt sind wir schon 15 Jahre verheiratet und wir führen eine wunderbare Ehe. Das macht mich sehr glücklich. Unser Geheimnis ist wahrscheinlich, dass wir viel miteinander reden.
Wie hat Georg es geschafft, dass Du von Deiner Spielsucht loskommst?
Als Georg noch in Haft war, lernte ich einen Mann kennen, der mich zum Spielen mit Spielautomaten mitnahm. Es machte mir anfangs Spaß und lenkte mich ab, aber bald wurde es zu einer Sucht, die ich nicht mehr kontrollieren konnte. Als Georg dann aus dem Gefängnis herauskam, merkte er sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte. Aber ich sagte ihm damals nichts. Später, als er nach Hallein zog, um meine Ziehmutter zu pflegen, war ich untertags bei ihnen in Hallein, aber am Abend fuhr ich dann nach Salzburg, um die Tiere zu versorgen – und danach zog es mich immer zu den Spielautomaten. Nach dem Tod meiner Ziehmutter ein paar Monate später, kam Georg nach Salzburg zurück und stellte fest, dass das ersparte Geld fehlte, weil ich es verspielt hatte. Ich ging ab dem Zeitpunkt in eine psychologische Beratung, um meine Sucht in den Griff zu bekommen. Man sagte mir, dass ich nie vom Spielen weggekommen würde. Georg wollte das nicht glauben und er beschloss mir zu helfen, mein Suchtverhalten zu ändern. Es dauerte lange fünf Jahre, aber dann habe ich es geschafft. Seitdem spiele ich nicht mehr! Darauf bin ich sehr stolz.
Georg macht seit September 2017 für Apropos soziale Stadtspaziergänge, in denen er interessierten Menschen anhand von bestimmten Orten entlang der Tour aus seinem Leben berichtet. Du hast ihn in den vergangenen Jahren meist dabei begleitet. Ab dem Frühjahr 2023 wirst Du eine eigene soziale Stadttour führen. Worum wird es bei Deiner Tour gehen?
Ich nehme die Leute mit auf eine Reise vom Saftladen über das Restaurant Schmankerl bis zu Apropos. Ich stelle dabei die einzelnen Einrichtungen vor und ich werde dabei auch aus meinem Leben erzählen. Als Georg im Gefängnis war, bin ich viel in den Saftladen gegangen. Dort habe ich Ansprechpartner gehabt, die mir zugehört haben, und auch bei der Straßenzeitung. Apropos hilft mir, dass ich etwas zu tun habe. Denn wenn man nichts zu tun hat, dann weißt Du nicht, was du machen sollst. Unsere Hochzeitsfeier hatten wir im Schmankerl. Daher sind alle drei Stationen sehr wichtig für mich.
Was waren Deine wichtigsten Lebensstationen?
Ich wurde in Wien geboren und kam gleich nach meiner Geburt in das Kinderheim des Krankenhauses, da meine Mutter alkoholkrank war. Mit vier Monaten bin ich dann zu Pflegeeltern nach Kuchl gekommen. Meine Zieheltern hatten schon drei Töchter. Dann zogen wir nach Hallein, wo ich ein halbes Jahr in die Haushaltungsschule ging. Mit 16 Jahren kam ich dann nach Klagenfurt in ein Heim, weil meine Ziehmutter zu alt war und es zu anstrengend für sie war mit einem Teenager – das wurde mir auf jeden Fall so gesagt. Ich machte dort ein Jahr lang die Haushaltsschule. Ab und zu haute ich in dieser Zeit ab, um meine richtige Mutter zu finden. Ich hab sie dann in Graz in einer Anstalt für alkoholkranke Menschen gefunden und sie danach immer wieder dort besucht. Bis zu ihrem Tod 1991 war ich immer wieder in Kontakt mit ihr.
Nach der Haushaltsschule war ich kurz in einer therapeutischen Wohngemeinschaft, auch da bin ich immer wieder ausgerissen. Damals lernte ich bei den Ausgängen den Saftladen kennen. Als ich 18 Jahre war, habe ich dann über den Frauentreffpunkt ein Zimmer in der Saalachstraße und ein paar Jahre später habe ich meine erste Gemeindewohnung erhalten in der Marx-Reichlich-Straße. Darüber war ich sehr glücklich.
Warst Du jemals obdachlos?
Ich habe schon mal im Auto oder im Zug geschlafen, als ich als Jugendliche immer wieder vom Heim abgehaut bin. Ich habe im Wartesaal gesessen oder in der Waggonie geschlafen. Aber nie für längere Zeit.
Was rätst Du Menschen, die von Armut betroffen sind?
Dass sie sich mehr zutrauen sollen. Dass sie nicht alleine sind und Hilfe annehmen sollen statt diese abzulehnen. Es gibt immer Möglichkeiten. Viele trauen sich nicht. Leute, die auf der Straße leben, brauchen Ermutigung. Sie müssen etwas ändern wollen. Da wären Streetworker gut, die die Menschen aufsuchen. Mittlerweile gibt es zum Glück welche.
Du warst unlängst auf einem Treffen der sozialen Stadtführer:innen in Basel und hast Kolleg:innen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Griechenland und England getroffen. Was hast Du Dir von dem Treffen mitgenommen?
Ich habe gemerkt, dass die Stadtführerinnen und Stadtführer richtig zusammenhalten – und das, obwohl wir uns nur wenige Tage gekannt haben. Wir haben als Dankeschön für die schöne Zeit in Basel für Organisatorin Sybille untereinander Geld gesammelt für ihren Urlaub – sie hat geweint vor Freude. Wir waren eine richtige Gemeinschaft! Außerdem habe ich gemerkt, dass es allen Stadtführern total wichtig ist, dass die Menschen, die bei den Touren mitgehen, verstehen, worum es geht – dass sie es interessant finden und sagen: Das hat einen Sinn. Ich bin bei der Tour von Stadtführerin Liliane mitgegangen – und ich habe es toll gefunden, dass sie so offen über ihr Leben und ihren Schulden erzählt hat. Und sie hat richtig gut erklärt.
Du bist mit Georg in den vergangenen Jahren an ganz vielen Orten gewesen, um Apropos vorzustellen: Armutskonferenz, Schulen, Kindergarten, Pädagogische Hochschule, Firmgruppen, Universität, Rotarier, Fachhochschule für Sozialarbeit – und auch bei Georgs Stadtführungen. Was sind denn Fragen, die die Leute immer stellen?
Beim Georg fragen viele, wie seine Zeit im Gefängnis gewesen ist. Und mich fragen sie, wie es mir gegangen ist, als ich sieben Jahre lang auf ihn gewartet habe, über unser Kennenlernen und wie wir so leben.
Bist Du aufgeregt, bevor Du vor so vielen Menschen sprichst?
Das legt sich mit der Zeit. Erst muss der Georg was sagen und dann fange ich an – damit ich warm werde. Der Georg war es auch, der mich dazu gebracht hat, eine eigene Stadtführung zu machen. Er hat gesagt: Probier‘s! Zuerst haben wir darüber gesprochen, wie die Tour ausschauen kann und dann haben wir mit Dir geredet – und jetzt werde ich das machen. Man soll immer etwas Neues ausprobieren! Die Probeführung, die ich gemacht habe mit dem Apropos- und Saftladen-Team ist gut gelaufen. Ich freue mich schon, wenn ich nach weiteren Probetouren im Frühjahr dann endlich damit loslegen kann.
Du verkaufst nicht nur bei Apropos, sondern Du schreibst auch in der Schreibwerkstatt, bist bei Lesungen dabei, hast früher gemeinsam mit Georg Radiosendungen gestaltet und warst auch beim Apropos-Chor dabei. Was sind Deine Highlights aus Deinen persönlichen 23,5 Jahren bei der Salzburger Straßenzeitung?
Dass ich bei den Büchern mitgeschrieben habe, die Apropos in den letzten 25 herausgebracht hat und dass wir auch Preise bekommen haben dafür. Einmal haben wir für eine unserer Radiosendungen über einen Leihopa den Radiopreis der Stadt Salzburg gewonnen. Außerdem waren die Film-Dokus, die über Georg und mich gemacht worden sind, cool. Und beim Poetry-Slam in Linz habe ich den vierten Platz belegt. Ich finde es toll, was wir alles machen können bei der Zeitung. Nämlich nicht nur verkaufen, sondern auch mitmachen.
Was war denn Dein schlimmstes Erlebnis beim Zeitungverkauf?
Ich habe nie wirklich eines gehabt. Außer, dass jemand in den Anfängen mal gesagt hat: „Geh arbeiten! Das ist keine gescheite Arbeit.“ Aber da habe ich gleich was zurückgesagt.
Was war Deine schönste Begegnung?
Dass ich zum Jedermann bei den Salzburger Festspielen habe gehen können mit Apropos. Dass ich den Nicholas Ofczarek und die Birgit Minichmayr kennengelernt habe und auch den Tobias Moretti. Wir haben bei der Apropos-Radiosendung die Birgit Minichmayr und den Cornelius Obonya interviewt, das war toll!
Ich habe es auch großartig gefunden, dass Ihr es geschafft habt, den Jedermann und die Buhlschaft als Gäste in Eure Apropos-Radiosendung einzuladen. Wie reagierst Du eigentlich, wenn jemand Nein sagt?
Das passt mir nicht. Es muss gehen. Ich schau einfach, dass es passert wird. (lacht)
Was bedeutet Dir die Straßenzeitung Apropos?
Ich bin aufgefangen worden, weil ich etwas tun kann. Das bedeutet, dass ich mein Leben so geändert habe, dass ich es geschafft habe.
Was macht Dir am meisten Freude im Leben?
Dass ich den Georg habe.
Wie würde Deine Stammkundschaft Dich beschreiben?
Als lieb und als cool. Dass ich immer gleich frage, ob ich einen Kaffee bekomme. (lacht) Weil es mir gesundheitlich nicht so gut geht, verkaufe ich mittlerweile nicht mehr auf der Straße, sondern stelle meiner Stammkundschaft die Zeitungen zu.
Was wünscht Du Dir vom Leben?
Der Georg und ich möchten gerne mal mit dem Moped nach Italien fahren. Zuerst durch den Tunnel, dann ans Meer. Irgendwann einmal auch nach Griechenland, oder Hamburg mit dem Zug. Und wenn wir ein bisschen was von der Welt gesehen haben, möchte ich gerne wieder einen Hund haben.
Was machst Du gerne in Deiner Freizeit?
Im Sommer mit dem Moped fahren. Im Winter daheim sein und es mir gutgehen lassen.
Was möchtest Du unseren Leserinnen und Lesern noch gerne sagen?
Dass sie die Zeitung bewerben, damit sie noch bekannter wird. Und dass sie viele Führungen bei Georg und bei mir buchen sollen. Und natürlich: Frohe Weihnachten und ein gutes, neues Jahr 2023.
Info
Stadtspaziergang von Georg Aigner buchbar unter:
stadtspaziergang@apropos.or.at
Tel.: 0662/870795-21 bei Michael Grubmüller
Erwachsene: 10 €
Schüler*innen & Studierende: 5 €
Dauer: 1,5 Stunden
Stadtspaziergang-Start von Evelyne Aigner im Frühjahr 2023
Info
International Network of Social Tours (INST)
www.inst.ngo