Zimt und Blumensterne

Da ist es wieder, dieses Lachen. Dieses große, offene Lachen. Es wärmt. Und es ist ansteckend.

Zwei Frauen sitzen einander gegenüber. Thi Nhin Nguyen trinkt Kaffee. Ich trinke Tee. Tini, wie sie von ihren Freunden genannt wird, trägt eine Bluse mit Blümchenmuster, eine schwarze, lange Hose und ihr Haar auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengebunden. Der kecke Haarknödel scheint ein Eigenleben zu haben, denn bei jeder Kopfbewegung nickt er mir freundlich zu.

Thi Nhin mag Knödel. Knödel mit Sauerkraut. Und sie mag Salzburg. Und die Menschen aus Salzburg.

1995 ist sie von Vietnam nach Deutschland und dann nach Salzburg gekommen. Sie hat vier Kinder und neun Enkelkinder, drei Buben und sechs Mädchen.

„Salzburg ist mein Zuhause“, sagt sie. „Hier möchte ich bleiben. Hier möchte ich noch lange stehen. Unter meinem Bogen stehen. Und Zeitungen verkaufen.“

Und da steht sie, tagein, tagaus, unter ihrem Bogen, und wartet auf Kunden.

„Wenn sie kaufen, dann kann ich leben“, sagt Thi Nhin. Sie lebt ausschließlich vom Zeitungsverkauf. Sie freut sich auf ihre Kunden. Und auf deren Geschichten. Tini hört gerne zu. Sie kann gut zuhören. Sie hört mit allen Sinnen zu. Auch mir hört sie ganz genau zu. Sie liest in meinem Gesicht. Sie fühlt meine Gedanken. Sie sieht in mein Herz.

Irgendwann will Tini noch einmal zurück nach Vietnam. Das Grab ihrer Eltern besuchen. Und das Grab des Vaters ihrer Kinder. Alleine will sie dorthin. Ohne Kinder. Ohne Enkelkinder. Ganz alleine will sie reisen zum Rendezvous mit den Erinnerungen.

Tini zwinkert mir schelmisch zu.

„Ich bin Geschäftsfrau. Bin immer beschäftigt“, erzählt sie lächelnd weiter. „Zuhause, auf der Straße, im Kopf. Mein Kopf ist so voll, immer so voll. Und dann bekomme ich Kopfweh. Viel Kopfweh. Und ich bin immer traurig. Viel traurig. Aber ich darf nicht weinen. Muss lachen. Tränen schlucken innen drinnen. Niemals draußen weinen. Drinnen traurig sein, draußen lachen.“

Das Lachen begleitet Thi Nhin Nguyen schon seit ihren Kindertagen in Vietnam. Aber auch das Kopfweh. Und die Angst vor Geistern. Deshalb lässt sie beim Schlafen das Licht an. Auch im Schlaf ist sie beschäftigt. Dann träumt sie. Von einer Reise ins Weltall und von einer glücklichen Familie.

„Hast du eine glückliche Familie?“, fragt sie und nimmt meine Hände in ihre Hände.

„Ja“, sage ich und mir wird plötzlich bewusst, dass das nicht selbstverständlich ist.

„Das ist gut“, sagt Tini und drückt meine Hände. Und wieder lacht sie.

„Weißt du, ich brauche keinen Mann. Ich will auch keinen Mann. Ich hab ja meine Enkelkinder.“

Und die sind ihr ganzer Stolz. Gerne schaut sie mit ihnen fern. Kinderfilme.

„Sind gut zum Deutschlernen“, sagt sie.

Oft kocht sie für die Kinder. Hühnersuppe mit Glasnudeln, Zimt und Blumensternen. So nennt Tini Sternanis. Und dann singt sie. Tini singt gerne. Beim Kochen, beim Spielen mit den Kindern, beim Spazierengehen, beim Zeitungsverkaufen, vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen.

Und plötzlich erzählt sie von früher. Von der Zeit, als sie ganz alleine war mit ihren Kindern. Als sie genäht hat auf der alten Nähmaschine, täglich achtzehn Stunden lang, um ihre Kinder durchzubringen. Nähen, putzen, kochen, Kinder versorgen, einkaufen gehen, waschen, bügeln und wieder nähen. Bis spät in die Nacht hinein.

„Und singen“, ergänzt Tini lachend.

Liebeslieder mag sie besonders gerne. Thi Nhin Nguyen hat mir ihr Lieblingslied mitgebracht. Sie hat es ins Deutsche übersetzt und feinsäuberlich in gestochen schöner Handschrift für mich auf ein weißes Blatt Papier geschrieben. Aufmerksam beginne ich zu lesen:

Ich möchte die Natur finden.

Ich möchte ohne Trauer leben.

Ich möchte, dass das Leben mich liebt.

Ich möchte wie eine Salbeiblume blühen.

Liebe umsonst verschenkt.

Köstlich wie reifes Apfelblatt.

Duftend wie ein Blumengarten.

Zerbrechlich wie ein Seidenfaden.

So weich wie ein warmer Atemzug.

Liebe ist ein froher Nebel.

Liebe ist tot wie ein Meer

Liebe ist groß für die Menschen überall.

Liebe umsonst verschenkt.

„Soll ich dir vorsingen“, fragt Tini. Ich nicke und sie singt, singt auf Vietnamesisch ihr Lieblingslied für mich. Wort für Wort und Ton um Ton fallen mir zu. Wir sehen uns in die Augen, während Tini singt und singt und sich ein Band aus Zärtlichkeit und Trost um unsere Körper legt.

Wir beide sitzen einander gegenüber. Wir wissen: Komme, was wolle, wir bleiben miteinander verbunden.

„Was wünscht du dir“? frage ich Tini.

„Gesund sein“, sagt sie, „damit ich für die Kinder und Enkelkinder da sein kann. Und irgendwann genießen. Mein Leben genießen. Für mich leben. Irgendwann.“

Ja, das wünsche ich dir, liebe Tini, und bin dankbar für dich und jede Begegnung mit dir, du blühende Salbeiblume, du zarter Seidenfaden, du warmer Atemzug, du unverdientes Geschenk.