Wie verändert man Gewohnheitstiere?
Unser Mobilitätsverhalten sitzt im Kopf und ist geprägt von der Bequemlichkeit des Autos. Wer es verändern möchte, muss Besseres bieten.
von Wilhelm Ortmayr
Und plötzlich fuhr man miteinander. Was jahrelange Appelle und Argumente nicht geschafft hatten, schaffte vor einem Jahr der über Nacht kriegsbedingt in die Höhe geschnellte Spritpreis. Allerorten wurden Fahrgemeinschaften gebildet, Mitfahrer:innen per Facebook gesucht. Menschen, die ähnliche Wege hatten, vernetzten sich eiligst, als wäre es ihnen wie Schuppen von den Augen gefallen, dass zweimal pro Woche mit dem eigenen Auto zu pendeln billiger ist als fünfmal.
„Ummadum“, eine Tiroler Plattform, die app-gebunden funktioniert, versucht Selbiges seit Jahren zu erreichen und erzielt dabei auch immer wieder Fortschritte, aber es sind eben nur kleine. Die Software erleichtert es, Fahrwege anzubieten und Mitfahrer zu finden, sie animiert aber auch, manche Wege nicht mit dem Auto zurückzulegen. Denn „Bonuspunkte“ gibt es nicht nur, wenn man andere Pendler:innen mitnimmt, sondern auch fürs Zufußgehen oder Radfahren. Die Bonuspunkte sind in vielen Geschäften der teilnehmenden Orte einlösbar und daher bares Geld.
Ummadum eignet sich gut als Beispiel für die Hürden, aber auch Chancen der Mobilitätswende: Angebot und Nachfrage müssen einander finden können und sich aufeinander abstimmen. Zwischen Privatpersonen funktioniert dies naturgemäß einfacher als gegenüber einem großen Mobilitätsanbieter. Vor allem der oft so problematische letzte Kilometer lässt sich „unter Nachbarn“ oft am besten lösen.
Die Mobilitätswende braucht langfristige Verhaltensänderungen. Um diese zu fördern, wirken Belohnungen besser als Verbote und Zwang: Wer Mitfahrkapazitäten anbietet oder Autoverkehr sonst wie vermeidet, sollte dafür einen zusätzlichen Benefit erhalten, sonst stellt sich sehr bald die Frage: Warum ich – und die anderen nicht?
Die öffentliche Hand muss Geld bereitstellen, um Anreize und Angebote zu schaffen. Im Kleinen ebenso wie im Großen. Bestes Beispiel ist Niederösterreich, wo sich gut die Hälfte aller P&R-Stellplätze Österreichs befindet. Meist dauert es nur wenige Monate, bis neu geschaffene Parkdecks oder Stellplätze komplett ausgelastet sind und das Pendlervolk nach weiteren Abstellmöglichkeiten ruft. Angebot schafft Nachfrage.
Falls vermehrte Nachfrage aber kein Angebot findet, kann dies zum Bumerang werden, weil es all jene bestärkt, die „schon immer gewusst haben“, dass die Mobilitätswende „sowieso nicht funktioniert“. So geschehen im Vorjahr bei den ÖBB. Steigendes Umweltbewusstsein, hohe Treibstoffpreise und das neue Klimaticket haben Österreichs größtem Mobilitätsanbieter jäh die Grenzen aufgezeigt. Personell unterbesetzt, beim rollenden Material aus dem letzten Loch pfeifend und ohne jegliche moderne Buchungs- und Reservierungslogistik war in der Hauptreisezeit das Chaos unausweichlich. Massive Verspätungen, völlig überfüllte Züge und mehrere Polizeieinsätze zwecks behördlicher Räumung ganzer Garnituren haben gewiss viele Fahrgäste für künftige Zeiten abgeschreckt.
Attraktiv kommt von Attraktion. Vor 40 Jahren fuhr meine Buslinie vom Salzburger Stadtrand ins Zentrum öfter als heute und die Fahrt war von kürzerer Dauer. Noch eindeutiger unsexy kann ein Verkehrsmittel nicht sein. Ja, das Busnetz wurde im Laufe der Jahre ausgeweitet, aber der Anreiz zu fahren blieb gering. Auf Schnellkurse wartet man bis heute, das oberleitungsgebundene Antriebssystem wirkt antiquiert, die Kurse bedienen viele Hauptverkehrsachsen nur mangelhaft. Die Folgen sind unübersehbar. Wer auf sich hält, wer „es geschafft hat“, der steigt ab Erlangung des Mopedführerscheins mit 15 nie mehr in einen Stadtbus. Dort, so hört man einem bösen deutschen Kalauer entsprechend, säßen nämlich nur die drei „A“: Alte, Azubis, Asoziale. Dazu vielleicht ein paar verirrte Tourist:innen.
Und in Todi? Das auf einem Hügel gelegene autofreie Städtchen in Umbrien wird alljährlich von Tausenden Gästen nur wegen seines „gläsernen“ Schrägaufzuges besucht, von dem aus man einen herrlichen Blick über das Tibertal genießt. In Lissabon stehen (nicht nur) die Touristen Schlange vor dem Elevador de Santa Justa, um in die Oberstadt zu gelangen, in Koblenz gleitet man per Seilbahn über den Rhein, in London über die Themse, in Porto entlang des Douro. Kein Zweifel, einige dieser Projekte sind heute primär Touristenattraktionen, doch viele wurden für den Nahverkehr geschaffen oder zumindest als Leuchtturmprojekte nach dem Motto: „Schaut her, so atemberaubend geht’s ohne Auto.“
Die Mobilitätswende, so man sie wirklich möchte, braucht mutige Politiker:innen. Diese müssen laut Umfragen für dreierlei sorgen: für günstige Preise (die es für Oft-Fahrer:innen nunmehr gibt), für Komfort und vor allem für Tempo – flächendeckend, nicht nur entlang einer Achse. Seit wann fährt ganz Salzburg nur noch mit der Bahn nach Wien? Seit 2011, als die Fahrt plötzlich nur noch 2:20 Stunden dauerte. In den Peripherien hapert es noch etwas, außer es existieren schnelle Zubringer. Seit wann sinkt in Wien die Kfz-Quote pro Kopf? Seit die unschlagbar schnelle U-Bahn eine akzeptable Netzgröße erreicht hat. Doch ohne ein Mindestmaß an Komfort geht nichts. Selbst der schnellste Pendlerzug oder Railjet wird zur Qual, wenn regelmäßig noch vor Hälfte der Fahrtstrecke nur noch Stehplätze zu ergattern sind.
Dass politische Entschlossenheit das Handeln der Bürger:innen beeinflussen kann, erleben wir Salzburger:innen täglich am Radverkehr. Die vielen Stege, Unterführungen, neu gebauten Radwege, Radfahrstreifen, die in den vergangenen gut 30 Jahren geschaffen wurden, haben den städtischen Verkehr tatsächlich verändert. Vor einem Unigebäude, wo heute 300 Räder stehen, reichte in den Achtzigern ein Dutzend Stellplätze.
Als ich vor einem Jahr an einem Sonntagnachmittag per Auto nach Dijon (Burgund/Frankreich) kam, das etwa so groß ist wie Salzburg, beschlich mich relativ bald das Gefühl einer verkehrstechnischen Pechsträhne: jede Ampel rot. Anderntags erkundete ich die Stadt zu Fuß und per Öffi und war sprachlos, ob des enormen Tempos und der Pünktlichkeit einiger Busse, vor allem aber der Straßenbahn, die die Stadt kreuzförmig durchzieht. Dijon schafft, was Salzburg im digitalen Zeitalter nicht schafft: die Bevorzugung öffentlicher Verkehrsmittel an so gut wie jeder Ampel, in allen engen Straßen und an neuralgischen Punkten.
Man stelle sich die Alpenstraße in Salzburg in etwa so vor: Die beiden mittleren Fahrstreifen sind eine Rasenfläche mit Schienen für die Straßenbahn, die beiden verbleibenden Spuren gehören dem motorisierten Individualverkehr. Die Zahl der Kreuzungen ist reduziert, die Straßenbahn hat prinzipiell Vorrang, sie ist deutlich schneller als der Autoverkehr. „Ohne grüne Ampeln würde das System nicht funktionieren“, sagen die Burgunder:innen, die aus eigener Erfahrung – sowohl als Autofahrer als auch als Öffi-Benützer – wissen: „Die Straßenbahn und die wichtigsten Zubringerbusse müssen schnell und pünktlich sein, sonst fährt keiner damit.“ Den Fünf-Minuten-Takt ihrer Bim halten die Dijoner:innen ohnehin für selbstverständlich. An dieser Stelle schweigt der viertelstundengeplagte Salzburger verschämt.