Wie ein Stück Brot

 

Sorin Mondoc erzählt von einer Liebe trotz Hindernissen und dem Durst nach Zuhause.

von Luka Leben

Sorin Mondoc ist geübt im Umgang mit der Zwischenzeit. Während die Übersetzerin Fragen und Antworten überträgt, ruht er in sich. Wenn er spricht, verwandeln sich seine Züge: Ausdrucksstark und nuanciert spiegelt sein Gesicht die Erzählung wider. Auch für sein Portraitfoto posiert Sorin gelassen, fragt nur einmal nach, ob man seine Hand auf den Fotos sehen darf. Auf den ersten Blick fällt nicht auf, dass Sorins rechte Hand sich von der linken unterscheidet, und nach der genauen Schreibweise seines Namens gefragt, fischt Sorin geschickt seinen Apropos-Ausweis aus der Geldbörse. Zuhause aber, in einem rumänischen Dorf zwischen Bergen und Wäldern, in das nur Schotterstraßen führen, ist bezahlte Arbeit oft harte körperliche Arbeit: Holzhacken, Waldarbeit mit Motorsägen – dabei war Sorins Hand ein Hindernis. 

Sorin hat die Schule abgeschlossen, den Führerschein gemacht, hätte gerne weitergelernt, wenn die Eltern nicht krank geworden wären. Einen Teil des Geldes, das er als Jugendlicher verdienen musste, hat Sorin in die Garderobe seines Schwarms investiert: Am Heimweg von der Schule hatte er sie getroffen – das schönste Mädchen weit und breit, wie Sorin mit einem Lächeln feststellt. Zum Glück hatte er an diesem Tag etwas Schokolade dabei, die er teilen konnte. Wo sie herkommen, erklärt Sorin, erkennt man einen guten Mann daran, wie sehr er seine Frau und deren Familie verwöhnt.

In den Augen seiner Freundin hatte Sorin viel zu bieten, trotzdem waren die Schwiegereltern zunächst im Zweifel, ob er mit seiner Beeinträchtigung die richtige Wahl sein konnte. An Verehrern mangelte es nicht. Bis zum ersten Kind bangte Sorin, ob die Schwiegereltern ihn akzeptieren würden: „Hätte sie mich nicht geliebt“, sagt Sorin „dann wäre es ihnen sicher gelungen, mich ihr auszureden.“ Der Gedanke an all die jungen Männer mit zwei gesunden Händen, die die schönste Frau der Gegend abgewiesen hat, um ihm die Treue zu halten, lässt Sorins Gesicht aufleuchten.

Inzwischen ist er dreifacher Großvater. In Rumänien lebt er mit Frau, Tochter, Schwiegersohn und deren Kindern und mit seinem Sohn zusammen in zwei Zimmern. Der Schwiegersohn kann wegen einer Gehbehinderung nicht arbeiten, bekommt auch keine Pension. Sorins Tochter versorgt die drei kleinen Kinder. Auf die Frage, was Sorin sich für seine Enkel wünscht, antwortet er: „Ein eigenes Zimmer!” 

Dass sein Sohn die weiterführende Schule abbricht, um Geld für einen Anbau zu verdienen, kommt für Sorin nicht infrage. Der Sohn ist Klassensprecher, erzählt Sorin stolz, er hat mit allen eine gute Beziehung und sorgt dafür, dass seine Freunde in der Schule bleiben. Später will Sorins Sohn Polizist werden, um der Ungerechtigkeit etwas entgegenzuhalten. 

Die Schwiegereltern haben die Familie letztlich ihr Leben lang unterstützt: Sie haben auf die Kinder aufgepasst und gekocht – im Sommer am Lagerfeuer vor dem Haus, wo genug Platz für alle war. Auch die Beziehung zu Sorins Eltern war eng, der Verlust groß, als sie vor einigen Jahren nach langer Krankheit verstorben sind. Kurz darauf hat Sorin beschlossen, in Österreich sein Glück zu versuchen. Ein Freund hat ihm von Apropos erzählt – dafür wird Sorin ihm ewig dankbar sein: „Er hat mir ein Stück Brot in die Hand gegeben.“

Dankbarkeit ist eine von Sorins großen Stärken. Dass manche Menschen ihm mehrmals im Monat eine Zeitung abkaufen, weiß er zu schätzen. Sie haben ein großes Herz, meint er, genauso wie die Menschen bei der Caritas, bei denen er auch an schlechten Verkaufstagen ein Abendessen und einen Schlafplatz bekommt. 

Sorin hat keinen festen Platz vor einer Supermarkt-Filiale, das macht die Arbeit nicht leichter. Oft kauft er sich eine Wochenkarte für den Bus und fährt hinaus Richtung Neumarkt oder Obertrum. Die Sicherheit, abends etwas zu essen zu bekommen, und die Videoanrufe, mit denen Sorin sich überzeugen kann, dass es den Enkeln gut geht, helfen ihm durch lange Regentage. Wenn Sorin einmal der Akku ausfällt, erlauben die Mitarbeiter in den Supermarkt-Filialen ihm, das Handy im Geschäft aufzuladen. Sie haben Verständnis für Sorins „Durst nach Zuhause“ und dafür, wie wichtig es ist, für die Familie erreichbar zu bleiben.

Sorins geliebte Frau ist ihm nach Salzburg gefolgt. Im Moment sparen sie für eine Nierenoperation, die Sorin dringend braucht, weil die Schmerzen schwer zu ertragen sind. In Rumänien gibt es kaum noch Ärzte mit Kassenvertrag, erklärt Sorin. Die, die das Land nicht verlassen haben, praktizieren nur privat. Seiner Frau hat Sorin den Vortritt gelassen: Sie hat schon zwei Operationen hinter sich. 

Die Frage, ob seine Eltern oder Großeltern ihm früher Geschichten erzählt haben, die ihm etwas bedeuten, verneint Sorin kopfschüttelnd. Keine Zeit für Geschichten! – Sie waren vier Geschwister, sie hatten keinen Strom, Rumänien war eine Diktatur, die ethnische Gruppe der Roma hatte besonders unter Lebensmittelknappheit, fehlendem Zugang zu Bildung und schlechtem Gesundheitswesen zu leiden. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts verrichteten viele Roma Zwangsarbeit und wurden von staatlichen, kirchlichen oder privaten Parteien als Eigentum verkauft. Sie wurden Opfer des Holocaust. Während der Ceausescu-Diktatur bis Ende der 80er Jahre wurden Sprache und kulturelle Eigenheiten der Roma systematisch unterdrückt. Die Mitglieder der Pfingstler, einer protestantischen Glaubensbewegung, die unter Roma-Stämmigen verbreitet ist, galten bis in die 90er als subversiv und wurden vielerorts verfolgt. Man traf sich im Verborgenen. Nach der Demokratisierung Rumäniens erlebten die Religion allgemein und die Pfingstler im Besonderen durch ihr soziales Engagement für benachteiligte Gruppen einen Aufschwung. Auch Sorins Familie schloss sich den Pfingstlern an. Trotzdem: Sorin legt Wert darauf, dass er Rumäne ist, kein Roma. 

Vor zwei Jahren hat Sorin sich zum zweiten Mal taufen lassen. Ein Foto zeigt Menschen, die sich am steinigen Ufer eines Bergbachs zwischen hohen dunklen Tannen versammelt haben. Im Bachbett steht Sorin in einem langen weißen Gewand, an dessen Saum die Strömung zieht. 

Sorin ist dankbar – besonders dafür, dass er in der Lage war, die Geschichten in der Bibel zu lesen und wirklich zu verstehen. Die Psalmen geben ihm, was er braucht, um seinen Idealen treu zu bleiben.