Wie das Leben so spielt

 

Man könnte sagen, Jürgen Kling hat es geschafft – vom Apropos-Verkäufer zum Koch im elitären Schloss Leopoldskron. Er selbst sieht das alles ganz gelassen. Eine Einstellung, die ihm das Leben lehrte.

 

von Ulrike Hammerl

 

Ich mache mich also auf zu unserem Interviewtermin im Hotel Auersperg in der Stadt Salzburg. Während ich mit dem Rad dorthin unterwegs bin, versuche ich mir ein Bild der Person zu machen, die ich gleich treffen werde und habe gleich ein konkretes Gesicht vor Augen. Umso erstaunter bin ich, als ich direkt vor dem Hotel eben jene Person entdecke, die genüsslich eine Zigarette raucht. Komischer Zufall, denke ich. Wenig später betritt besagter Raucher die gemütliche Lounge, in der das Gespräch stattfinden soll. Ich muss lächeln und stelle natürlich sofort die erste Frage: „Wo bist du in deiner Zeit als Zeitungsverkäufer gestanden?“. „Vorm Spar in der Josefiau und ganz lange beim Merkur in der Alpenstraße. Und am Sonntag war ich oft vor der Kirche in Herrnau“, klärt Jürgen mich auf und auch, dass er in dieser Gegend seit mittlerweile zwanzig Jahren seine eigene Wohnung hat. Wir sind also quasi Nachbarn und damit ist klar, woher ich dieses Gesicht kenne.

Schnell entwickelt sich ein entspanntes Gespräch und Jürgen erzählt aus seinem Leben. Geboren in Dinkelsbühl in Mittelfranken, macht er zunächst eine Lehre als Konditor, im Schwarzwald lässt er sich später auch noch zum Koch ausbilden. Mit dieser Basis verschlägt es ihn in den 80er Jahren nach Kanada. „Das war eine spannende Zeit, die fremde Sprache, die vielen verschiedenen Nationalitäten, mit denen ich zusammengekommen bin – das war oft eine ganz schöne Herausforderung“, erzählt Jürgen. Seine gute Ausbildung hat ihm schon damals geholfen. „Als Koch findet man schnell einen Job. Es ist mir auch oft zugutegekommen, dass Kost und Logis bei vielen Arbeitsverträgen inkludiert waren.“

Über die Bedeutung von Heimat

Nach ein paar Jahren läuft die Arbeitserlaubnis in Kanada aus und Jürgen zieht weiter. „Ich war ein bissl wie ein Zigeuner, nirgends wirklich sesshaft und es hat mich dorthin verschlagen, wohin der Wind geweht hat. Dass Heimat eine tiefere Bedeutung haben kann, hab ich erst gemerkt, als ich mich nach 30 Jahren mit meinem Bruder wieder in unserem Geburtsort getroffen hab. Wir sind da durch die Stadt gelaufen, auf deren gepflasterten Straßen wir schon als Kinder gespielt haben und auf der auch schon im Mittelalter Menschen unterwegs waren. Das hat mich schon zum Nachdenken gebracht, wie klein und unwesentlich ich mit meinem Leben eigentlich bin.“

Der Liebe wegen kam Jürgen 1996 nach Salzburg. Die Liebe von damals ist längst weg, Jürgen noch immer da. Und hier ist er eines Tages auch auf der Straße gelandet. „Es ist so wie es ist“, meint er. „Man gewöhnt sich in gewisser Weise daran, obdachlos zu sein. Wir waren eine Gemeinschaft. Wir haben zusammengehalten und irgendwer hat immer Alkohol organisiert, ohne den geht es auf der Straße nicht.“ Einige von damals leben nicht mehr, Abschied gehört dazu. Mit anderen hat man sich einfach auseinandergelebt. Manche tun sich eben schwer damit, wenn es einer aus der Gruppe schafft, auszusteigen. „Wenn ich auf eines stolz bin, dann darauf, in welch kurzer Zeit, ich es geschafft habe, mir wieder einen Alltag aufzubauen“.

„Es ist besser in einen Raum zu kommen, in dem es dunkel ist und den du selbst erhellen kannst, als in einen hellen Raum zu gehen und jemand Fremder dreht das Licht aus“.

Eine Weisheit, die Jürgen einfach so in den Raum stellt und mich tief berührt. Eine Einstellung, die ihm das Leben gelehrt hat, die aber vielleicht auch schon immer in ihm geschlummert ist. Denn welche Stärke gehört dazu, sich von einem Leben auf der Straße wieder zurück zu kämpfen! Mit Disziplin und dem unbedingten Willen, dem Alltag wieder eine Struktur zu geben, ist Jürgen Schritt für den Schritt seinen Weg gegangen. Apropos, das zu Anfang von Jürgens Zeit bei der Straßenzeitung noch Asfalter hieß, war ihm dabei eine große Stütze. „Ich habe damals nicht nur verkauft, sondern auch geschrieben und einmal wurde über uns sogar ein Film gedreht. Das war schon komisch, dass wir da zu so wichtigen Persönlichkeiten wurden, dass wir sogar im Kino zu sehen waren“, erinnert sich Jürgen schmunzelt an diese Zeit.

Burgbewohner auf Zeit

Und so ganz nebenbei, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, fällt ihm dann noch eine Episode aus seinem Leben ein. „Ein gutes halbes Jahr hab ich auf Burg Katzenstein gelebt (Anmerkungen: die Burg liegt in Baden-Württemberg und ist eine der ältesten erhaltenen Stauferburgen). Der damalige Verwalter hat mich als Koch angestellt und ich hab auch Burgführungen gemacht. Dazu haben wir sogar eigens angefertigte Kostüme bekommen. Das war schon eine tolle Zeit. Aber ich habe ich Menschen im Mittelalter im Nachhinein echt bemitleidet, denn in den dicken Mauern war es ständig eiskalt.“

Und heute? Ist Jürgen für den Moment mehr als zufrieden mit seinem Leben. Er hat seit Jahren wieder eine Freundin und auch in seinem Job im Schloss Leopoldskron geht es ihm wieder gut. Corona und ein Burnout hatten ihn ein wenig aus der Bahn geworfen. So richtig zu leuchten beginnen seine Augen, als er von seinem Motorrad erzählt, mit dem er auch heute zu unserem Interview gekommen ist. „Vor drei Jahren erst habe ich in Österreich den Führerschein gemacht und vor zwei Jahren dann auch den Motorradführerschein. Seit ich meine eigene Maschine hab, fahr ich viel herum. Wenn ich allein mit meinem Motorrad unterwegs bin, fühle ich mich so richtig frei.“

Jeder hat seine Geschichte

Auf meine abschließende Frage, was er denn aus seiner Zeit bei Apropos mitgenommen hat, meint Jürgen: „Ich hatte als Apropos-Verkäufer ja viel Gelegenheit, Menschen zu beobachten und hab ein ganz gutes Gespür entwickelt. Jeder Mensch hat seine Geschichte, man muss nur zuhören können und niemanden belächeln. Ich bin immer gerne bereit, anderen zu helfen, aber ausgenützt werden, geht gar nicht. Ich hab echt wieder lernen müssen, auf mich zu schauen.“

Und gibt es weitere Lebenspläne? „Eigentlich würde ich gerne noch mal ins Ausland gehen, mal schauen. Ich denke, irgendwann wird das Leben einfach fad.“

Das Gespräch mit Jürgen Kling hallt bei mir lange nach. Ich fühle mich um eine Lebensweisheit reicher: Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Ereignissen, Erlebnissen und Zufällen. Wir müssen es nehmen, wie es kommt, aber immer versuchen, das Beste daraus zu machen. Danke Jürgen für diese Erkenntnis.