
„Wenn Frauen einen Tag streiken, würde die gesamte Gesellschaft zusammenbrechen“
Ich treffe Veronika Bohrn Mena zum Interview im neuen academy Salon über der academy Bar. Der Vintage-Flair passt zum Thema: Denn auch die Situation der Frauen hat sich in den letzten 30 Jahren nicht verändert, wie mir die Autorin und Arbeitsmarktexpertin eindrücklich vor Augen führt. Die 35-jährige gebürtige Salzburgerin ist überzeugt, dass wir die Pandemie nur deswegen meistern, weil Frauen Unfassbares leisten – unbedankt und unbezahlt.
Titelinterview mit Veronika Bohrn Mena von Monika Pink-Rank
Frau Bohrn Mena, was fällt Ihnen ein, wenn Sie den Begriff „Klasse“ hören?
Ich denke bei Klasse sofort an Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeit und Klassengesellschaft. Daran, dass jeder noch so kleinste Millimeter des Lebens durch Klassenzugehörigkeit bestimmt wird. Es ist ja auch kein Zufall, dass ich mein erstes Buch „Die neue Arbeiter:innen-Klasse“ genannt habe und das darauf folgende Buch „Leistungsklasse“. Ich arbeite immer ganz bewusst mit dem Klassenbegriff.
Ist dieser Begriff nicht schon überholt?
Eines der größten realpolitischen Probleme ist, dass in den 1990er Jahren behauptet worden ist, es gäbe keine Klassenunterschiede mehr. Es ist die Lüge hochgehalten worden, dass alle, die sich genügend anstrengen, den sozialen Aufstieg schaffen. Der Anspruch war nicht mehr, dass es allen Klassen gutgehen soll, sondern auf einmal der, dass man aufsteigen soll. Und auch die Parteien, also vor allem die Sozialdemokratie oder auch die Gewerkschaften, haben sich nicht mehr dafür eingesetzt, dass die Arbeiter:innenklasse ein gutes Leben hat, sondern sie haben sich für den sozialen Aufstieg eingesetzt.
Sozialer Aufstieg klingt doch wünschenswert, oder? Was ist das Problem dabei?
Dieses soziale Aufstiegsversprechen ist eine Illusion. Weil es so tut, als ob eh alle die gleichen Möglichkeiten hätten, und die haben wir nicht. Denn wir haben extrem unterschiedliche Möglichkeiten, je nachdem, wie wir geboren werden, wie wir aufwachsen, wieviel Zeit und wieviel Kapital unsere Eltern haben, und vor alle welches soziale Kapital unsere Eltern haben. Indem die Politik diese Ungerechtigkeit und Ungleichheit einfach negiert, schiebt sie die Verantwortung aufs Individuum: Man sagt, man gibt den Menschen die Chance zum sozialen Aufstieg. Und wenn sie nicht sozial aufsteigen, dann haben sie sich halt nicht genug Mühe gegeben.
Also leben wir doch in einer Klassengesellschaft?
Ja, denn real gesehen sind in Österreich die Aufstiegschancen und die soziale Durchlässigkeit sehr schlecht. Klasse durchzieht alles, egal, was es ist. Ob es die Gesundheit ist oder die Lebenserwartung, ob es die Bildungschancen sind oder die Frage wie ich mich kleiden oder ernähren kann, wie ich auftreten kann, welche Vorsorge ich mir leisten kann. Diese Ungerechtigkeit ist in Österreich omnipräsent, und man kommt ihr fast nicht aus. Und deswegen halte ich es auch für extrem wichtig, den Klassenbegriff wieder zu besetzen. Ich finde, ein gutes Leben muss für alle Menschen möglich sein, unabhängig davon, ob sie einen Aufstieg schaffen oder nicht.
In Ihrem zweiten Buch schildern Sie, „wie Frauen uns unbedankt und unerkannt durch alle Krisen tragen“. Warum heißt es „Leistungsklasse“?
Einerseits, weil ich mich intensiv mit dem Leistungsbegriff beschäftige. In Österreich wird so getan, als ob Menschen, die finanziell gut situiert sind, besonders leistungsstark wären. Ich behaupte, dass es genau umgekehrt ist. Die Menschen, die die gesellschaftlich wertvollsten Berufe ausüben, werden am wenigsten als Leistungsträger:innen gesehen. Andererseits, weil Frauen noch einmal eine Klasse für sich sind: Denn innerhalb jeder Klasse gibt es zwei Gruppen: Männer und Frauen. Die Gruppe, denen es immer am allerschwersten gemacht wird, sind die Frauen.
Welche sind aus Ihrer Sicht die gesellschaftlich wertvollsten Berufe?
Es sind die, die während der Krise als systemerhaltend erkannt worden sind, egal ob das im medizinischen, im sozialen Bereich, im Bereich der Elementarpädagogik und der Bildung oder im Bereich der kritischen Infrastruktur ist. Aber auch die vielen kleinen Rädchen, die es unbedingt braucht, wie zum Beispiel die Reinigungskraft im Operationssaal. Deswegen sage ich auch: Wenn Frauen einen Tag streiken, würde die gesamte Gesellschaft zusammenbrechen. Denn wir hätten nicht nur keine Kinder- und Altenbetreuung, wir hätten keine Krankenschwestern, keine Reinigungskräfte und so weiter. Ältere oder kranke Menschen würden tatsächlich sterben, wenn sie ein paar Stunden nicht versorgt werden.