Was Tattoos erzählen
von Kurt Palm
Das Interview mit Andreea findet im Foyer des Hotels Auersperg statt. Ich komme vom Hotel Zum Hirschen, wo ich nach meiner Lesung im Literaturhaus Salzburg übernachtet habe, Andreea kommt von ihrem Schlafplatz am Salzach-Ufer. Ich frage unsere Dolmetscherin, ob ich richtig gehört habe. Sie wirft mir einen mitleidigen Blick zu und erklärt mir, dass in Salzburg 130 Menschen permanent auf der Straße leben, also weder über einen festen Wohnsitz noch über ein fixes Einkommen verfügen, von einer Krankenversicherung ganz zu schweigen. Zwei von ihnen sind Andreea und ihr Mann, Alex, der kurz vorbeigeschaut hat, aber gleich wieder verschwindet, weil er die Zeitung „Apropos“ verkaufen muss.
Den Namen ihres Mannes hat sich Andreea auf den Arm tätowieren lassen. Ich frage sie zum Spaß, was mit dem Tattoo passieren würde, wenn sie sich von Alex trennen sollte. Andreea schüttelt vehement den Kopf: „Das Tattoo wird bleiben. Alex ist nämlich meine große Liebe.“ Noch einen Namen lese ich auf ihrem Arm: Darus. „Darius ist mein Sohn“, sagt Andreea wehmütig. Dass der Tätowierer beim Namen ihres Sohnes das i vergessen hat, ist Andreea noch gar nicht aufgefallen, sie kann nämlich weder lesen noch schreiben. Sie hat in ihrer Heimatstadt Pitești drei oder vier Jahre lang die Schule besucht. So genau weiß sie das nicht, weil sie die meiste Zeit zu Hause war, um ihrer Mutter zu helfen, die sich um zehn Kinder kümmern musste. Nicht einmal ihr exaktes Geburtsdatum kennt Andreea, aber irgendwann hat man sich auf 1999 als Geburtsjahr geeinigt.
Als Andreea stolz erzählt, dass Darius neun Jahre alt ist und in Pitești zur Schule geht, beginne ich zu rechnen. Wenn Andreea 25 ist, hat sie Darius bereits mit 16 bekommen, obwohl sie ein paar Minuten später sagt, dass sie 14 war, als sie zum ersten Mal Mutter wurde. Ihr zweites Kind, Maria, ist erst zwei Jahre alt. Deren Namen wird sie sich demnächst ebenfalls tätowieren lassen. Neben der Blume auf dem linken Arm. „Ich liebe Blumen“, sagt Andreea und lächelt verträumt.
Während ich mich mit Andreea unterhalte, checken im Hotel ständig Gäste aus und ein. Ich habe keine Ahnung, wie viel eine Übernachtung im Hotel Auersperg kostet, aber ich vermute, dass sich Andreea mit dem Geld, das sie als Zeitungsverkäuferin in einem Monat verdient, hier höchstens drei oder vier Nächte leisten könnte. Wobei Andreea wahrscheinlich eher darüber nachdenkt, ob und wann sie sich die nächste Fahrt nach Rumänien leisten kann. Hotelübernachtungen spielen in ihrem Leben keine Rolle.
Andreea stammt aus einer Roma-Familie und obwohl von den 140.000 Einwohnern Piteștis gerade einmal 800 der Volksgruppe der Roma angehören, leben diese isoliert in einer Art Ghetto. Von den „Einheimischen“ werden sie abfällig als „ţiganii“ bezeichnet. Für Andreea ist das nichts Ungewöhnliches, weil sie hier wie dort zu den Ausgegrenzten gehört: In Pitești ist sie eine „ţigan“, in Salzburg eine „Sandlerin“, die auf der Straße lebt, obwohl sie in Wirklichkeit einer geregelten Arbeit als Verkäuferin der Straßenzeitung „Apropos“ nachgeht. Eine „Zigeunerin“, die auf der Straße lebt und unter der Brücke schläft – da kann der spießige Salzburger Wohlstandsbürger nur abfällig die Nase rümpfen. Anstatt sich einzugestehen, dass es eine Schande ist, wenn in einer wohlhabenden Stadt wie Salzburg 130 Menschen kein Dach über dem Kopf haben und im Freien schlafen müssen.
Zu Hause in Pitești leben Darius und Maria bei Andreeas Mutter, für jedes Kind bekommen Alex und Andreea eine staatliche Unterstützung in Höhe von fünfzig Euro. Weitere Unterstützungen gibt es nicht. Nicht einmal krankenversichert sind Alex und Andreea in Rumänien. Bereits Alex‘ Vater hat die Armut gezwungen, Rumänien zu verlassen, um in einem anderen Land sein Glück zu versuchen. Durch Zufall ist er in Salzburg gelandet, wohin ihm später sein Sohn nachfolgte.
Aber welche Perspektiven haben Alex und Andreea in Salzburg? Beide haben keine Ausbildung, sie sind Analphabeten und könnten im günstigsten Fall nur Berufe ausüben, bei denen es egal ist, ob man lesen oder schreiben kann. Aber ohne Wohnung bekommt man nicht einmal einen Job als Reinigungskraft, wie es so schön euphemistisch heißt, oder als Fensterputzer.
Unter diesen Umständen ist Andreea natürlich froh, dass sie und ihr Mann die Straßenzeitung „Apropos“ verkaufen können. Das sichert ihnen immerhin ein kleines Einkommen, von dem sie den größten Teil nach Rumänien schicken, um ihre Kinder zu unterstützen. „Unsere Familien in Rumänien halten zusammen“, sagt Andreea, „sonst würde ich es hier nicht aushalten. Ich arbeite zwei Monate in Salzburg, dann fahre ich für ein paar Wochen nach Pitești zu meinen Kindern, so geht das jetzt schon seit sechs Jahren. Aber meine Kinder geben mir Kraft. Und mein Glaube. Ohne meinen Glauben wäre ich verloren.“ Dass die Trennung von ihren Kindern schwer zu ertragen ist, merkt man an Andreeas Gesichtsausdruck, sobald sie die Namen Darius oder Maria erwähnt.
Ich frage Andreea, ob es zwischen den Verkäuferinnen und Verkäufern der Straßenzeitung Konkurrenz gibt, schließlich ist der Markt begrenzt und Salzburg nicht unbedingt als besonders weltoffene Stadt bekannt. Andreea schüttelt den Kopf. „Wir sind alle Freunde“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Könnte ich die Zeitung nicht verkaufen, müsste ich betteln gehen.“ Andreea gehört zu den mobilen Verkäuferinnen, sie hat keinen fixen Platz, ist mit der Zeitung allerdings meist in der Altstadt unterwegs. Ob sie in all den Jahren Kontakte in Salzburg geknüpft hat, will ich wissen. „Nein, wir haben nur Kontakte zu den Leuten von der Straßenzeitung und zur Caritas.“
Um den Teufelskreis aus Armut und Diskriminierung zu durchbrechen, müsste Andreea nicht nur Deutsch, sondern auch lesen und schreiben lernen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn es Tag für Tag zunächst einmal nur darum geht, das nackte Überleben zu sichern. Das ist auch der Grund, weshalb sie Darius und Maria nicht nach Salzburg holen kann. „Wie soll das gehen? Auf der Straße ist es nicht sicher. Das ist kein Leben für Kinder.“ Andreeas größter Wunsch wäre es, in Salzburg eine Wohnung zu finden, in der sie mit Alex und ihren beiden Kindern leben könnte. Und schreiben würde sie gerne lernen, und lesen. Andreea sagt das mit einem hoffnungsvollen Blick, so, als bestünde tatsächlich die Chance, dass sich in ihrem Leben eines Tages doch noch alles zum Guten wendet.