Was ist hinter den Bergen?

 

von Peter Blaikner

Unser Treffen ist für fünfzehn Uhr im Garten des Hotel Auersperg angesetzt. Marie Bernadette kommt vierzig Minuten zu spät. Aber ich kenne Afrika, da muss man gern eine Stunde Verspätung einrechnen. So gesehen, ist Marie Bernadette überpünktlich. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Die Europäer haben die Uhr, wir haben die Zeit.“

Marie Bernadette stammt aus Kamerun in Westafrika. Sie spricht noch nicht viel Deutsch, also führen wir unser Gespräch auf Französisch, neben Englisch eine der beiden Amtssprachen in Kamerun, wo es auch noch mehr als 250 verschiedene Dialekte gibt. Marie Berndettes Dialekt ist Bafang, der in der angrenzenden Provinz schon nicht mehr verstanden wird. Sie kommt aus einem Dorf im Westen des Landes, einer Gegend nahe dem englischsprachigen Kamerun, das wiederum an Nigeria grenzt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die ehemalige deutsche Kolonie zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt, das Land erlangte 1960 seine Unabhängigkeit, die Konflikte zwischen dem britischen und dem französischen Teil sind geblieben. Der von Briten und Franzosen unterstützte Kampf um die Vorherrschaft und um die Ausbeutung der Bodenschätze ist heute heftiger denn je. Dazu kommen wirtschaftliche Interessen Russlands und der USA. Die brutalen Überfälle der islamischen Terrorgruppe Boko Haram aus dem benachbarten Nigeria verschlimmern die Situation massiv.

Marie Bernadette flüchtete vor zweieinhalb Jahren aus Kamerun nach Österreich, kam zuerst in das Flüchtlingslager Traiskirchen und wurde nach vier Monaten mit Frauen aus dem Kongo, aus Nigeria, Äthiopien und Somalia einem Heim in Lend im Pinzgau zugewiesen. „Wir verstehen uns gut“, sagt sie, „denn wir kommen meist aus benachbarten afrikanischen Ländern.“ Ich frage sie nach den Gründen, warum sie geflohen ist. Sie will nicht darüber sprechen und sagt nur: „Weil es nicht mehr ging. Seit vier Jahren ist in Kamerun der Teufel los. Es ist schlimmer als in Nigeria.“ Auf meine Frage, wie sie nach Österreich gekommen ist, antwortet sie: „Wie die anderen auch.“ Ich erfahre, dass sie vier Kinder, drei Buben und ein Mädchen im Alter zwischen vierundzwanzig und vierzehn Jahren in ihrer Heimat zurückgelassen hat. Sie leben nun bei ihrer Schwester. Der Kontakt zu ihrer Familie läuft hauptsächlich über WhatsApp. Anfangs fragten die Kinder natürlich dauernd, wann sie wieder zurückkomme. Sie aber will nicht mehr zurück, das ist nicht mehr möglich. Auch darüber will sie nicht sprechen. Ihr wichtigstes Ziel ist es jetzt, in Österreich Asyl zu bekommen. Dann könnte sie auch eine regelmäßige Arbeit in Vollzeit annehmen, Geld verdienen und ein einigermaßen unabhängiges Leben führen. Sie ist Arbeit gewöhnt, hat schon seit ihrer Jugend auf den Kaffee- und Kakaoplantagen in ihrer Heimat hart gearbeitet. In Österreich könnte sie Putzfrau werden, sagt sie. Am liebsten wäre ihr eine Arbeit als Pflegerin für gebrechliche Menschen. Dafür würde sie auch gern eine Ausbildung machen. Aber zunächst muss sie Deutsch lernen. Zwei Tage in der Woche, am Dienstag und am Freitag, fährt sie mit dem Zug nach Bischofshofen, dort hat sie dann jeweils zwei Stunden Deutschkurs. „Mein Handicap ist die Sprache, aber das wird noch werden, ich werde Deutsch lernen, um die Österreicher zu verstehen. Ich würde gern jeden Tag in die Schule gehen, aber das ist leider nicht vorgesehen.“ Sie fährt auch regelmäßig von Lend nach Schwarzach, um dort vor dem Spar-Markt die Apropos-Straßenzeitung zu verkaufen. „Die Leute sind sehr freundlich, sie geben mir Geld, sie kaufen mir etwas zu essen und bringen mir Kaffee. Sie stellen mir viele Fragen. Am Anfang habe ich nichts verstanden, nun geht es schon besser. Nur ein Mann steht immer etwas abseits, schaut mir beim Verkaufen der Zeitungen zu, zeigt mit dem Finger auf mich und schüttelt ununterbrochen den Kopf. Sonst hat er anscheinend nichts zu tun. Ich habe mich an ihn gewöhnt. Wenn ich dann besser Deutsch spreche, kann ich ihn ja einmal fragen, was das alles soll. Ich freue mich, dass ich die Zeitungen verkaufen kann, dass ich etwas zu tun habe, denn nur zu Hause zu sitzen ist furchtbar. Es gibt Leute, die gern zu Hause sitzen, aber ich gehöre nicht dazu. Ich bin froh, dass es Apropos gibt. Apropos ist super! Bravo Apropos! Österreich ist ein sehr schönes Land, leider ist es hier sehr oft sehr kalt. Aber die Leute hier sind nicht kalt, sie sind sehr warmherzig, sehr freundlich. Ich würde gern in diesem wunderbaren Land bleiben können.“

Marie Bernadette ist viel mit dem Zug unterwegs, sie kauft sich regelmäßig eine Wochenkarte. Als sie wieder einmal mit ihrer Zimmerkollegin aus dem Kongo mit dem Zug zum Deutschkurs nach Bischofshofen fuhr, hörte sie jemanden hinter ihr sprechen und erkannte an seinem französischen Akzent und an seinem Tonfall, dass er aus Kamerun sein müsste. Durch ihn wurde für Marie Bernadette der Kontakt zu Landsleuten hergestellt, die in Salzburg leben, einer Gemeinschaft von ungefähr zwanzig Personen, die sich regelmäßig treffen, sich austauschen, die versuchen, ihre ursprüngliche Kultur im Ausland zu pflegen und zu leben. Sie unterstützen einander, sie lachen miteinander, singen und feiern, sofern das in diesen besonderen Zeiten möglich ist. „Seither fahre ich nach dem Deutschkurs weiter nach Salzburg, um mich mit meinen Landsleuten zu treffen. Diese Gemeinschaft tut mir sehr gut, sie hält mich am Leben.“

Marie Bernadette lebt in einem abgeschiedenen Haus in Lend, einer Ortschaft, wo es keine Geschäfte mehr gibt, keinen Supermarkt. Sogar um Zigaretten zu kaufen, muss man mit dem Zug weiter fahren, nach Schwarzach oder nach St. Johann. Man sagt, früher war hier alles anders, viel besser, und es war auch viel mehr los. Die Ortschaft Lend liegt unten im Salzachtal, von hohen Bergen umgeben. Marie Bernadette fragt mich: „Was ist eigentlich hinter den Bergen? Gibt es dort auch Häuser und Ortschaften? Leben dort auch Menschen?“ Sie kennt ja nur den Weg aus dem Tal heraus und in das Tal hinein. Ich sage ihr, dass es auch Wege über die Berge gibt, dass hinter den Bergen andere Berge und Täler sind, dass dahinter auch Menschen leben, mit all ihren Wünschen, Sorgen und Sehnsüchten. Und sie versteht, dass die Freiheit in unserem Land über die Berge hinweg geht, dass wir Freiheit als grenzenlos empfinden, auch wenn uns die Berge bisweilen die Sicht verstellen. Das scheint ihr Hoffnung zu geben, dass für sie alles gut wird. Sie lacht herzlich, doch auch sorgenvoll, wobei die Hoffnung in ihrem Lachen überwiegt. Hoffnung, auf Französisch – espoir. <<