Vom Wassertrinken und anderen Absonderlichkeiten

 

Autor Christoph Janacs trifft Verkäuferin Nicola Friedrich

 

Es ist ein sonniger Frühlingstag. Wir sitzen vor dem Kiosk des Cafés Tomaselli. Ein seltenes Vergnügen für mich wie für Nicola. Ich habe sie gebeten, dass wir uns noch einmal treffen; ich möchte meine Notizen vom ersten Mal überprüfen und ergänzen. Und es gibt tatsächlich einiges an Neuigkeiten, und auch noch gute!

Dabei hat es das Leben, wie Nicola betont, nicht gut mit ihr gemeint. Der Vater, ein italienischer Musiker, verlässt die 30-jährige Mutter, als er erfährt, dass sie schwanger ist, die Mutter hat Schulden und Gesundheitsprobleme, weshalb sie Nicola, als diese 15 ist, zu Pflegeeltern gibt. Diese wiederum schmeißen sie hinaus, weil sie Probleme in der Schule macht, Alkohol und Drogen nimmt und mit der Polizei „so ihre Erfahrungen“ macht. Bis 18 lebt sie in einer WG, hat Klinikaufenthalte und bekommt mit 19 ihr erstes Kind. Kein toller Start ins Leben und keine gute Fortsetzung.

Doch es wird besser. Sie geht mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn (der heute 22 ist und in einem Hotel arbeitet) nach Berlin, wo sie drei Jahre im Stadtteil Schönefeld verbringt und als Kellnerin arbeitet. Berlin hat sie in guter Erinnerung, vor allem die Ausflüge an den See. 2003 geht es zurück nach Salzburg, jetzt zu viert, denn sie hat eine Tochter bekommen (die derzeit in der Justizverwaltung tätig ist). Zehn Jahre später die Scheidung: Es ging nicht mehr. Genaueres erfahre ich nicht; ich will auch nicht nachfragen. Was mir Nicola erzählt, soll sie freiwillig tun. Und sie ist, obwohl wir uns nur oberflächlich kennen, erstaunlich offen, schmunzelt sogar bisweilen und redet ungemein schnell. „Wie auf der Folter“, schrieb seinerzeit Büchner über den gehetzten Lenz. Und das ist auch sie. Sie hat Asthma wie ihre Mutter, alle möglichen frühkindlichen Störungen wurden diagnostiziert und ihr deshalb Medikamente verschrieben, die sie dämpften bis zur völligen Passivität. Eine Fehldiagnose, wie sich nach sechs Jahren herausstellte. Jetzt ist sie besser eingestellt, ist wieder aktiver, kann aber oft nicht schlafen, liegt wach im Bett, und dann kreisen ihre Gedanken. Deshalb ist sie mit 42 in Invaliditätspension, denn des Stiegensteigen (sie wohnt im dritten Stock ohne Lift) und schwerere körperliche Arbeiten bereiten ihr große Mühe, und manchmal geht es gar nicht; dann muss sie zuhause bleiben und immer wieder zum Sauerstoffgerät greifen.

Seit 2021 steht sie vor dem Rathaus, nahe der Polizeiwachstube, und verkauft das Apropos. Da hatte sie ein Erlebnis, an das sie gerne zurückdenkt. Einmal saß sie, weil es ihr zu anstrengend wurde, auf dem Boden, einen Becher mit einem Getränk vor sich. Ein Polizist kam und meinte, hier dürfe sie nicht betteln. Als sie ihm erwiderte, sie verkaufe die Zeitschrift, ruhe sich nur kurz aus und der Becher sei nicht für Münzen, sagte er: „Oh, Entschuldigung.“ Das hat sie gefreut und ein wenig versöhnt mit der Polizei.

Wie würde sie ihr bisheriges Leben beschreiben, will ich wissen. „A harte Partie“, kommt die Antwort schnell und ohne nachzudenken. Ein klares, hartes Urteil. Aber es gebe auch schöne Seiten. Zum Beispiel sei sie froh, „dass i mei Mama ghabt hab“, wie sie mit leuchtenden Augen bekennt. Vor zwei Jahren ist ihre Mutter gestorben und wurde auf eigenen Wunsch verbrannt. Der bürokratische Kampf dauerte bis vor kurzem; jetzt, seit zwei Wochen, hat sie die Urne mit der Asche ihrer Mutter zu Hause stehen, auf einem Bord über dem Sofa. Da liege sie gerne und spreche mit der Verstorbenen, erklärt sie mir und lächelt.

Und dann rückt Nicola mit einer Neuigkeit heraus, und ich bin froh, dass ich den Artikel nicht gleich nach unseren ersten Treffen geschrieben habe. Jetzt, wo sie gut eingestellt sei und es ihr deutlich besser gehe, laufe die Invaliditätspension aus und beginne sie im September einen Pflegehilfekurs. Nach zwei Jahren werde sie ihn, wenn alles gut geht, abgeschlossen haben und als Pflegerin zu arbeiten beginnen. „Das ist doch toll“, rufe ich aus, fast zu laut für das Ambiente hier; aber die Gäste sind mit sich und ihren Geschichten viel zu sehr beschäftigt, als dass sie uns ihre Aufmerksamkeit schenken würden. Nicola nickt heftig und meint, darauf freue sie sich riesig.

Und dann erzählt sie eine weitere Anekdote, die uns beide zum Lachen bringt, zu skurril ist sie und wirkt wie aus einem Kabarettsketch entsprungen. Vor längerer Zeit sei sie bei einem Arzt gewesen und auf Herz und Nieren untersucht worden. Der Doktor habe die Daten und Ergebnisse lange studiert und dann die Stirn gerunzelt.

Der Arzt: Wieviel trinken Sie?

Nicola: Ausreichend.

Der Arzt. Das sieht man.

Nicola: Wieso, Herr Doktor?

Der Arzt: Ihre Nierenwerte. Ziemlich schlecht.

Nicola: Ein Missverständnis, Herr Doktor! Ich hasse Alkohol. Ich trinke nur Wasser!

Daraufhin wurden die Medikamente geändert…

Als ich die Rechnung begleiche, überschlage ich im Geist, wie viele Exemplare dafür Nicola hätte verkaufen müssen. Salzburg ist nicht nur eine schöne Stadt (Nicola liebt das Salzachufer mit den sonnenbadenden Menschen), sondern auch eine besonders teure. Und eine ungerechte, denke ich, als wir uns verabschieden und jeder seines Weges geht.