Vom Leben auf der Staße

 

von Ulli Hammerl

Ein Leben am Bahnhof, ohne feste Bleibe, ohne Dach über dem Kopf, ohne Rückzugsort. Schwer vorstellbar für uns Wohlstandsmenschen, wozu sich wohl jede und jeder in meinem Freundes- und Bekanntenkreis zählt. Und doch leben Menschen neben uns, die es nicht so gut getroffen haben. Wir sehen sie täglich und gehen doch meist achtlos an ihnen vorüber. Nicht aus bewusster Ignoranz, sondern weil wir in der eigenen Gedanken- und Lebenswelt so fest verwurzelt sind. Einer dieser Menschen war Georg Aigner, der mir – zusammen mit seiner Frau Evelyne – bei unserem Treffen im Wintergarten des Hotels Auersperg gegenübersitzt.

Vom Pinzgau in die Welt hinaus

Geboren in Stuhlfelden im Pinzgau als eines von sieben Kindern, gehören Schläge von Anfang an zu Georgs Leben. Mit nur 10 Jahren raucht er seine erste Zigarette, mit 12 kommt der Alkohol dazu. Auf Geheiß des Vaters macht der junge Mann schließlich eine Lehre als Metzger. „Die praktische Arbeit fiel mir leicht, da war ich gut drin“, erzählt Georg, „aber die Berufsschule war nichts für mich.“ Es folgen Jahre als Hilfsarbeiter am Bau, danach als Forstarbeiter in Östereich, Deutschland und der Schweiz. „Da hab ich sehr gut verdient, aber alles versoffen,“ gibt Georg offen zu. Immer wieder zieht es ihn nach Hause in den Pinzgau, bis die eigene Familie ihn quasi vor die Tür setzt. Ihm ist das ganz recht. Aus der Enge des Pinzgaus auszubrechen und in der Anonymität der Stadt neu anzufangen, mit diesem Vorhaben kommt er 1995 nach Salzburg. Doch so einfach ist es eben doch nicht – die Gegend rund um den Bahnhof wird für fünf Jahre sein neues Zuhause. Einmal fährt er, schwarz selbstverständlich, mit dem Zug nach Rom, und auch nach Paris verschlägt es ihn. Aber „alle Bahnhöfe sind gleich, nur die Sprachen sind verschieden.“ Mit der Zeit lernt Georg, wo es Unterstützung für Obdachlose gibt, und so vergeht ein Tag nach dem anderen.

Wohnen kann man verlernen

Irgendwann wird Evelyne auf ihn aufmerksam oder er auf sie. Die beiden kommen ins Gespräch, die Besuche werden häufiger und nach ein paar Wochen nimmt Evelyne ihn mit zu sich nach Hause. Zumindest in der Nacht hat Georg ab da wieder ein Dach über dem Kopf, sonst ändert sich nicht viel. „Wohnen kann man tatsächlich verlernen. Eingesperrt habe ich mich gefühlt, aber ich wollte frei sein und so habe ich weiterhin die Tage mit meinen Saufkumpanen am Bahnhofsvorplatz verbracht.“ Evelyne hat trotzdem zu ihm gehalten. Vielleicht war ja damals schon die Liebe im Spiel, heute sind die beiden jedenfalls verheiratet und halten fest zusammen. Auch sieben Jahre Gefängnis in Graz-Karlau aufgrund eines Raubüberfalls haben daran nichts geändert. Mit solchem Blödsinn, wie Georg es nennt, ist längst Schluss. Es hat allerdings eine ordentliche Portion Willensstärke gebraucht, die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Dass Georg jede Menge Stärke in sich trägt, hat er bewiesen, indem er völlig ohne fremde Hilfe während seiner Anfangszeit in Karlau vom Alkohol weggekommen ist.

Zurück ins Leben

Einen sehr großen Anteil, wieder in einen geregelten Alltag zurückzufinden, hatte auch Apropos. Evelyne und Georg Aigner sind Urgesteine der Straßenzeitung. Beim Verkaufen auf der Straße sieht man die beiden heute nicht mehr, nur mehr ihre langjährigen Stammkunden werden persönlich beliefert. Vielmehr helfen sie im Hintergrund und sind im Rahmen der Schreibwerkstatt auch begeisterte Autor:innen.

Stadtspaziergang mit Georg

Das alte Leben hat Georg aber keineswegs in den Hintergrund gedrängt. Im Gegenteil. Regelmäßig zeigt er im Rahmen eines ganz besonderen Stadtspaziergangs Interessierten seinen ehemaligen Lebensraum und erzählt ganz offen über seinen damaligen Alltag. Um Georg noch besser kennenzulernen, habe ich mich kurzerhand entschlossen, mich solch einer Führung anzuschließen. An einem Wintertag treffen wir uns kurz nach Mittag am Bahnhofsvorplatz. Eisig kalt ist es und einmal mehr frage ich mich, wie ein Mensch es bei diesen Witterungsverhältnissen auf der Straße aushalten kann. Offensichtlich härtet es ab, denn während wir eingehüllt in dicke Jacken, den Schal bis fast über die Nasenspitze gezogen, in der Kälte stehen und Georgs Worten lauschen, steht er ohne Mütze und Handschuhe vor uns und erzählt uns seine bewegte Lebensgeschichte. Dabei kommt die subtile Art seines Humors zum Vorschein – selbst bei der Schilderung seines Raubüberfalls müssen wir Zuhörerinnen schmunzeln. In jedem seiner Spaziergänge lässt er die schlimmste Zeit seines Lebens wieder Revue passieren, es wirkt, als wäre das seine eigene Art der Aufarbeitung. Denn dass Georg eines Tages beschlossen hat, ein richtiges Leben zu führen, hat er allein sich selbst zu verdanken. So wendet er sich schließlich auch an die Stellen, die Hilfe für Obdachlose anbieten, um einen Wiedereinstieg ins Leben zu ermöglichen. Darüber erzählt er, als wir durch das Bahnhofsgebäude schlendern und uns auf den Weg zur Sozialen Arbeit gGmbH in der Breitenfelderstraße machen. Hier ist eine der Anlaufstellen, wenn man wieder in der Gesellschaft Fuß fassen will. Das beginnt bei der Sozialberatung, dem Ausstellen einer sogenannten Nicht-Meldebestätigung (die besagt, dass man derzeit keinen festen Wohnsitz hat), Hilfe bei der Wohnungs- und bei der Jobsuche. Auch die Caritas bietet in den unterschiedlichsten Einrichtungen Hilfe an – von der Notschlafstelle bis zum Tageszentrum.

Mit einer gehörigen Portion Respekt und Hochachtung lausche ich den Erzählungen dieser beiden Menschen – Evelyne Aigner hat sich in der Zwischenzeit dazugesellt – , die es geschafft haben, aus dem Kreislauf von Sucht, Arbeits- und Obdachlosigkeit auszusteigen. Ob ich noch Fragen habe, will Georg wissen. Ich weiß es nicht, zu viel geht in meinem Kopf gerade um und zu fern meiner Vorstellungskraft ist diese Art von Leben. Und mir wird bewusst, wie groß der Unterschied zwischen dem Leben auf der Straße und unserem Interviewtermin im Wintergarten des Hotels Auersperg ist. Dass Evelyne und Georg Aigner diesen Sprung geschafft haben, dafür zolle ich ihnen höchsten Respekt.