Sorgt euch nicht um euer Leben
Autor Michael Burgholzer traf den Verkäufer Gheorge Ungurearu
„Wir nehmen die Kastanie“, sagt der Fotograf und deutet auf den Baum, der auf der Straßenseite in der Glockengasse Schatten spendet, und wir folgen ihm zu dritt: die Übersetzerin, Gheorge Ungurearu und auch ich. Als Erster ist Gheorge dran, um den es heute geht. „Zunächst ein paar Mal von der Seite“, sagt der Fotograf und winkt. „Die eine Hand steck ruhig in die Tasche, wunderbar. Sieh her zu mir, perfekt.“ Gheorge trägt ein dunkelblaues Hemd und eine schwarze Hose, eine Schiffermütze auf dem Kopf, und er posiert und lehnt am Stamm, bewegt sich voller Ruhe, ruht in den Bewegungen, die er vollführt. Der Fotograf ist hochzufrieden. „Jetzt noch eines mitten durch die Blätter, die dann unscharf wirken. Der Effekt ist schön.“ Nun holt er mich dazu und knipst uns beide und zum Abschluss noch ein paar Mal mich allein.
„Die Menschen in Rumänien“, erzählt Gheorge, „haben viele Kinder. Die Familien sind groß, so groß, dass oft zu Weihnachten ein Schwein geschlachtet wird, wenn alle da sind. Das ist Tradition.“ Neun Kinder hat Gheorge in die Welt gesetzt, von denen sechs noch leben, und das älteste ist über 35 Jahre alt, das jüngste elf. Zwei Zimmer standen zur Verfügung für die acht Personen. Vier Geschwister hat er noch, erwähnt Gheorge und wird traurig: Seine Mutter ist mit 30 schon gestorben, als er 13 war. Jetzt ist er 58, seit April.
„Der aktuelle Präsident ist gut“, erklärt Gheorge. „Er bekämpft die Korruption, die in Rumänien allgegenwärtig ist. Bei uns sind viele Leute arm, und das ist bitter“, sagt Gheorge. „Viel zu niedrig sind die Löhne und die Pensionen, viele Waren teuer, vieles kostet mehr als hier in Salzburg.“ Schon das zehnte Jahr kommt er hierher. Er hat am Anfang Menschen seine Dienste angeboten, für sie eingekauft und ihre Taschen heimgeschleppt und Hunde ausgeführt und auch schon Zeitungen verkauft. Nie war er aufdringlich, versichert er, und irgendwann ist eine Frau mit einem Amt im Umfeld einer Kirche auf ihn aufmerksam geworden, und sie hat im Kirchenblatt von ihm berichtet und gemeint, dass er sich doch bei Apropos bewerben und dort Zeitungen verkaufen soll.
Das ist zwei Jahre her. Vor seiner Billa-Filiale teilt Gheorge sich den Platz mit einer jüngeren Kollegin; wenn sie da ist, macht er sich mit seinem Zeitungsstapel auf den Weg und wirbt, versucht, dass er im Gehen Käufer für sein Blatt gewinnt. „Wenn ich bei uns im Dorf zu meinem Spar-Markt gehe“, sage ich, „dann stecke ich mir immer Kleingeld ein, für meinen Apropos-Verkäufer; oft beschleicht mich das Gefühl, dass es zu wenig ist, was ich ihm gebe.“ „Es ist nie zu wenig“, widerspricht Gheorge, „jeder Beitrag zählt.“
Wenn er in Salzburg ist, dann übernachtet er in Parsch im Haus Franziskus, das dort von der Caritas betrieben wird, für Obdachlose und für die, die ihre Not zum Reisen zwingt. Gheorge lobt das Haus in höchsten Tönen, und nur manchmal, wenn es unter den Bewohnern Ärger gibt, dann würde er diejenigen, die daran schuld sind, härter strafen, weil sie wissen sollen, dass man Grenzen braucht.
Nach ein paar Wochen fährt Gheorge regelmäßig wieder nach Rumänien, per Bus. „Die Reise in die Heimat dauert lang und ist nicht billig, und der Fahrpreis“, sagt Gheorge, „richtet sich danach, wie voll der Bus gerade ist.“ Das ist ganz unterschiedlich, manchmal gibt es keinen Platz mehr und er kann nicht mit. Drei seiner Söhne kämen ebenfalls nach Salzburg, sagt Gheorge, und ich frage ihn, ob er gemeinsam reist mit ihnen. Er verneint. Wenn einer unterwegs ist, rufen sie einander aber an am Ziel, damit die anderen auch wissen, dass es gut gegangen ist.
Den Namen seines Heimatortes möchte ich noch von Gheorge wissen und auch, wo er liegt. Die Übersetzerin und er beginnen mit dem Buchstabieren und ich schreibe mit. In meinem Heft ergänzt Gheorge noch die Sonderzeichen unter „T“ und unter „s“, die wichtig sind. Țițești heißt der Ort, er liegt nordwestlich der Hauptstadt Bukarest, 200 Kilometer ungefähr. In seiner Heimat gebe es viele, die die Schule nur vier Jahre lang besuchen können, sagt Gheorge. Er war länger dort, hat einen Abschluss. Und er schlägt spontan eine Broschüre auf, die auf dem Tisch liegt, zufällig, und blättert auf die letzte, leere Seite, bittet mich um einen Stift und fängt zu schreiben an, in einer wunderschönen Schrift, und malt dazu am Ende voller Stolz noch seinen Namen, wie ein Kalligraph.
Gheorge hat ein großes Gottvertrauen, einen festen Glauben. Er verzichtet ganz auf Alkohol. „Die Pflaume“, sagt er, „ist von Gott als eine Frucht gemacht, damit wir sie verzehren, nicht um Schnaps aus ihr zu brennen.“ Die Gemeinschaft, der er angehört, erwähnt die Übersetzerin, zählt zu den freien Kirchen, die „Bekehrte“ heißen in Rumänien. Den Österreichern dankt Gheorge, nennt die Leute warmherzig und lobt ihren Charakter, wünscht, dass sie gesegnet werden sollen.
Gegen Ende hält er uns sein Handy hin, der Übersetzerin und mir, und deutet aufs Display, auf dem ein Bibelvers erscheint, in seiner Muttersprache. „Sorgt euch nicht um euer Leben, heißt das“, sagt die Übersetzerin. Ich frage, wo der Spruch denn in der Bibel steht. Die Übersetzerin muss passen, doch sie greift zu ihrem Handy, ruft zu Hause an, ihr Mann ist Pfarrer. Bei Matthäus findet sich die Stelle, die Gheorge viel bedeutet, in Kapitel 6, Vers 25: „Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, und nicht darum, was ihr essen, was ihr trinken werdet; und auch nicht um euren Leib und was ihr anzuziehen habt. Ist nicht das Leben mehr als Nahrung und der Leib nicht mehr als Kleidung?“ Ja, es ist ein Lebensmotto für Gheorge. Wo er recht hat, finde ich, da hat er recht. Sein Spruch ist klug gewählt, nicht nur für Gläubige. Er passt für alle, auch für Zweifler und für Atheisten.