Reist du noch oder schläfst du schon?

 

Unser Sommerurlaub startet mit der Planung im Winter davor, am Höhepunkt des Hogwarts-Fiebers unserer Kinder. Harry-Potter-Studiotour, Fahrt im „Hogwarts Express“, Schlendern durch die Winkelgasse, Tom Riddles Grab besichtigen. Sofern wir alle Orte von Interesse einplanen – so versichern uns die Kinder –, werden sie glücklich sein. Und Eltern sind bekanntlich dann zufrieden, wenn es auch die Kinder sind. So planen wir unsere Reise mit Bus und Zug von Salzburg über Brüssel nach London weiter nach Schottland und mit Fähre und Zug wieder zurück. Auch für uns Zugschlafprofis ein echtes Abenteuer.

 

von Judith Mederer

 

Eine Zugreise von London ins schottische Fort William dauert mit 13 Stunden und 30 Minuten fast dreimal so lange, wie ein Flug für diese Strecke braucht. Dennoch haben wir uns als vierköpfige Familie dafür entschieden. Das Ticket sollte man dabei schon ein halbes Jahr im Voraus buchen und entsprechend Pufferzeit für die Weiterreise einplanen. Fernzugreisen sind nämlich nichts für Kurzentschlossene. 

„Time flies. You relax“ lautet der Werbeslogan des Caledonian Sleepers, des schottischen Nachtreisezuges, der uns von London nach Fort William in den schottischen Highlands bringt.

21.00 Uhr: Wir zwängen uns mit unseren Rucksäcken durch die engen Gänge und es folgt die freudige Überraschung:  Die Schlafabteile sind genau um die Zentimeter geräumiger, die in den Gängen fehlen. Wir haben zwei Zweibettabteile mit einer Verbindungstür. Im Abteil erwarten uns frisch gemachte Betten und die freundliche Frage der Zugbegleiterin, was wir am nächsten Tag zum Frühstück möchten. Wir sind zu viert, mein Mann, unsere zwei Kinder und ich. Und kurz werden wir alle zu Kindern: Wer will wo schlafen? Oben oder unten? Und warum? Nachdem wir uns entschieden haben, erobern wir kletternd über eine Leiter oder gebückt das Bett, das die nächsten Stunden unseres sein wird. Ich sitze stolz im oberen Bett und teste die Absturzsicherung – diesmal ein ca. 10 cm hohes Holzbrett. Das ist eine Erleichterung, denn ich habe an dieser Stelle von schwindligen Netzen bis zu klapprigen Plastikschienen schon einiges wenig Vertrauenserweckendes erlebt. Wir lassen die Füße baumeln und jetzt gibt’s erst mal einen Gutenachttrunk. „Sparkling wine or lemonade?“ gibt’s von der netten Zugbegleiterin. Wir schauen aus dem Fenster auf den Bahnsteig: Und gleich geht’s los. Ich mag das Gefühl des irritierten Innehaltens, der Illusion: Bewegen wir uns oder der Zug gegenüber oder doch beide?

Bald liegen wir in unseren Betten, lesen noch ein paar Seiten im Schein des kleinen Nachtlichts, das es am Kopfende jedes Liegeplatzes gibt, und lassen uns in den Schlaf schaukeln. Roll- und Schlupfgeräusche, Kurvenquietschen, Schienenstoßen heißen die Fachbegriffe für das, was uns von nun an begleitet. Die einen fühlen sich dadurch in den Schlaf getragen (dazu gehöre ich), die anderen verbannen die Töne mit Ohropax – eines der Give-aways der Bahn neben Schlafmaske und Pantoffeln.   

Mittlerweile sind wir echte Zugschlafprofis. Wir sind in den vergangenen Jahren aufgewacht in Venedig, Florenz, Rom, Amsterdam, Berlin, Hamburg, Brüssel, Rijeka, Zagreb, Split und Fort William. Oft war das bereits das Ziel unserer Reise. Andere Male nur ein Zwischenstopp, um dann mit Zug, Fähre, Bus weiterzureisen. 

Erfahrung haben wir bisher hauptsächlich mit Reisen im Liegewagen. Der Vorteil zu viert ist, dass man ein eigenes 6er-Abteil belegen kann. Wer komfortabler reisen will, bucht einen Schlafwagen. Der Aufpreis bietet den Vorteil, eine eigene Waschgelegenheit und manchmal auch eine eigene Toilette zu haben. Es ist auch möglich, die Nacht im Sitzwagen zu verbringen, das haben wir bisher noch nicht getestet. 

Der Caledonian Sleeper von London nach Fort William ist bei Insidern vor allem auch deshalb beliebt, weil er einsame Bahnhöfe in kaum berührten Landschaften Schottlands anfährt, die durch öffentliche Straßen nicht erreichbar sind. Er ist einer von insgesamt drei Nachtreisezügen in Großbritannien. In der EU wird aufgrund der steigenden Nachfrage laufend aufgestockt. Die Österreichischen Bundesbahnen bieten derzeit 20 eigene Nightjet-Linien an. Eigentlich hätten die alten Garnituren durch neue ausgetauscht werden sollen. Aber aufgrund des ungebremsten Booms der letzten Jahre gibt’s die neuen nun nicht als Ersatz, sondern zusätzlich zu den alten. Laut Auskunft der ÖBB sind weitere Züge bestellt, um dem Ansturm nachzukommen.

Fairerweise sei gesagt, dass der Blick passionierter Zugreisender etwas verklärt ist: Ein Nachtreisezug ist dann doch in erster Linie ein Transport- und kein Schlafmittel. Tiefschlafphasen sind nicht allen vergönnt. Warum entscheiden wir uns trotzdem immer wieder für eine dreimal längere Anreise, die Monate im Voraus geplant werden muss; für geschüttelten Schlaf und unsanfte Passkontrollen mitten in der Nacht? 

Drei grundlegende Argumente führen wir ins Treffen. Punkt eins: Entschleunigung. Wir mögen das Gefühl, zu realisieren, wie weit man sich von daheim entfernt, in einer Geschwindigkeit, die man verstehen kann. Das erzwungene Nichtstun ist ein guter Start aus einem hektischen Alltag in einen erholsamen Urlaub. Punkt zwei: Zeitgewinn. Klingt vielleicht erstmals paradox. Aber nach der Ankunft am Zielort in den Morgenstunden liegt ein ganzer, vollständig nutzbarer Urlaubstag vor uns. Punkt drei, wenig überraschend: der Umweltgedanke. Mit dem Nachtzug sind wir – abhängig von Strecke und Energiemix der unterschiedlichen Bahnen – bis zu 50-mal grüner in den Urlaub unterwegs als mit dem Flugzeug. Laut Verkehrsartenvergleich des deutschen Umweltbundesamtes könnten wir zum Beispiel 70-mal von Frankfurt nach Travemünde mit dem Zug fahren (577 km) im Vergleich zu einem Flug von Frankfurt nach Bangkok – mit gleicher Klimawirkung.

08.00 Uhr: Nach einer entspannten Nacht genießen wir das Frühstück, das auf einem gut durchdachten, schnell aufgeklappten Tischchen serviert wird. Moorähnliche, wilde Landschaften schauen zu uns herein und lassen uns ahnen, was uns die nächsten Tage erwartet, bis wir um 09.57 Uhr pünktlich im Bahnhof von Fort William einfahren.

Hier startet unser zweiwöchiges Abenteuer durch die schottischen Highlands. Schlussendlich geht’s über Edinburgh weiter nach Newcastle, von da mit der Nachtfähre nach Amsterdam, mit dem Zug weiter nach Köln und zurück nach Salzburg. 

Wieder daheim angekommen, könnten wir jetzt natürlich zuallererst von der Zugverspätung in Deutschland erzählen (bitte immer Puffer einplanen). Oder aber von wunderbaren Orten wie North Berwick, von unvergesslichen Tagen in der Blockhütte auf der Isle of Skye und der Fahrt mit dem Hogwarts Express, gezogen von einer pfeifenden, fauchenden Dampflok (Die Kinder schwören, dass sie im Nebenabteil Hermine gesehen haben!). 

Es stimmt, Zugreisen ist keine vergleichbare Alternative zum Fliegen – sondern um rollende, schlupfende, pfeifende Erfahrungen besser!