Keine einfache Geschichte

 

Manche Geschichten lassen sich nicht rund und flüssig erzählen. Sie wehren sich, beharren auf Leerstellen und weißen Flecken, bleiben störrisch. Sie formen keine Gegend aus Wörtern, in der man sich gemütlich niederlassen kann, nicht als Leser:in, nicht als ihr:e Autor:in. Ein rundes Ende verbitten sie sich. Sie enden mit einem großen Fragezeichen und einem Gefühl von Schwere. Nichts kann daran etwas ändern, keine Erklärungsversuche, keine Fakten.

 

Von Gudrun Seidenauer

 

Die Geschichte des Apropos-Verkäufers Ilie-Ninel Banu ist eine davon, obwohl ihr Protagonist selbst das ganze Gegenteil verkörpert: Der Mitvierziger ist ein schmaler, zurückhaltender Mann mit warmen braunen Augen, der viel lächelt und mit allem einverstanden ist, was vorgeschlagen wird. Mir ist wichtig, dass er sich in der Gesprächssituation wohlfühlt und bestimmt, was er erzählen möchte. „Kein Problem“, sagt er immer wieder und erwartet meine Fragen mit aufmerksamem Blick, der zwischen der engagierten und kompetenten Dolmetscherin, die ihren Namen hier nicht genannt wissen will, und mir hin- und herpendelt, denn er muss das Gehörte mit Lippenlesen ergänzen. Durch eine unbehandelte Erkrankung in der Kindheit ist Herr Banu auf einem Ohr taub.

Auch wenn man es in unserer an Selbstinszenierung orientierten Zeit kaum mehr wahrhaben will: Nicht alle Menschen reden gerne über sich selbst, verfügen über die Sozialtechniken, ein Image zu generieren, um soziales sowie reales Kapital daraus zu schlagen.

Menschen wie Ilie-Ninel Banu, er nennt sich selbst mit dem rumänischen Wort Tigan/Zigan, gehören zu denjenigen, für die das ohnehin sehr löchrige rumänische Sozialsystem nichts übrig hat. Die Eltern geben das Kind weg. Er lernt sie nie kennen, wächst bei mehr als zehn wechselnden Pflegestellen auf, er weiß selbst nicht mehr genau, bei wie vielen.

Schon in jungen Jahren lebt er oft draußen, arbeitet als Viehhüter und Alteisensammler, besucht nur kurz und unzureichend die Schule. Er bleibt ohne Ausbildung, gehört nirgendwohin. Sein bester Freund aus jener Zeit? Ein Pferd namens Dollar.

Solche wie ihn braucht man in Rumänien nicht, wirft die aus derselben Gegend stammende Dolmetscherin ein. Die meisten Menschen finden, die sollen einfach verschwinden, ergänzt sie. Was ich über die dortige Situation der Roma nachgoogle, bestätigt ihre illusionslose Einschätzung. Sie selbst hatte trotz wirtschaftlicher Probleme das Privileg, eine weiterführende Schule zu besuchen, und vor allem eine Familie, die sie dabei unterstützte.

Die Roma stellen in Rumänien mit geschätzt 10 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung und einer Zahl von über zwei Millionen Menschen die größte Minderheit. Von allen Problemen, wirtschaftlicher und sozialer Armut, Arbeitslosigkeit und vielen damit verbundenen Faktoren wie Bildungsdefiziten und niedrigerer Lebenserwartung, sind sie, wie auch in Bulgarien, Tschechien und anderen Ländern mit größeren Communitys, überdurchschnittlich stark betroffen. 

Herr Banu also ist nicht online, er ist on the road, allerdings ganz ohne Romantik und aus purer wirtschaftlicher Not. Schon seit über zehn Jahren reist er zwischen seinem rumänischen Heimatdorf in der Nähe der Stadt Ploiesti und Salzburg hin und her. Etwas mehr als 1400 Kilometer lang ist die Fahrt, die er etliche Male im Jahr auf sich nimmt, um immer wieder einen Monat mit seiner Frau Madalina und ihren fünf gemeinsamen Kindern zu verbringen. An die 18 Stunden mit nur den nötigsten Pausen sind die Gruppen unterwegs, im Pkw oder Kleinbus. Auch dafür steigen die Kosten. Aber dauerhaft in Österreich zu arbeiten, ohne die Möglichkeit, jederzeit nachhause zu können, wie es die Beschäftigung bei Apropos erlaubt, ist für Herrn Banu nicht vorstellbar. Denn da sind neben seiner geliebten Frau Madalina die zwei Töchter und drei Söhne: Persida, Amir, Carlos, Ianis und seit einem halben Jahr die kleine Banu Eva Maria Nina. Als er ihr Bild zeigt, ein entzückendes Baby mit neugierigem Blick und einer großen roten Masche um den Kopf, strahlt er. Sie ist sein Augenstern. Sie sei aber das letzte Kind, habe seine Frau gesagt. Jetzt sei Schluss, fünf seien mehr als genug. Er lacht, zum ersten Mal.

Fünf Kinder: Zuerst ist da einmal Herrn Banus unendlich tiefe Sehnsucht nach Menschen, die zu ihm gehören, nach einer Familie, möglichst nach einer großen, die kein Gefühl von Einsamkeit oder Verlassenheit mehr aufkommen lässt, niemals mehr. Herrn Banus Frau und seine Kinder sind das Zentrum seines Fühlens und Denkens, das ist in jeder Sekunde unseres Gesprächs präsent. Die Dolmetscherin kennt Herrn Banu schon lange, unterstützt ihn. Die Batterien für sein Hörgerät sind aus, sie schimpft ihn liebevoll, weil er noch keine neuen besorgt hat.

Kindergeld gebe es in Rumänien, erzählt Herr Banu, aber es reicht nie und selbst für die Fahrt in die Schule, die die Älteste bis achtzehn besucht hat, muss bezahlt werden.

Vielleicht im Bemühen, dem Gespräch einen Hauch mehr Leichtigkeit zu geben, frage ich nach Dingen, die ihm Freude bereiten, nach Freunden. Herr Banu denkt nach: In Matthias von Apropos (ehemaliger Vertriebsleiter, Anm. der Redaktion) hat er jemanden gefunden, der, wie er sagt, mehr ist als ein Freund. Und in anderen engagierten Menschen, die unter anderem dafür sorgten, dass er ein Hörgerät bekommt und eine medizinische Behandlung bei einer schweren Erkrankung vor ein paar Jahren. Fühlt er sich mit der Community der Notreisenden verbunden? Man kennt sich, man grüßt sich, tauscht Informationen aus. Aber Herr Banu bleibt lieber für sich, vertraut nicht leicht. Musik? Ja, am liebsten ruhige Kirchenmusik, die mache ihn glücklich.

Seine Frau sei keine „Zigan“, sondern eine blonde Rumänin, sie könne lesen, sei viel klüger als er. Zuhause würden sie rumänisch sprechen, nicht die Sprache der Roma. Was er sagt, um seine Liebe zu ihr auszudrücken, hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl. Die anderen, die nicht seien wie er, die seien etwas Besseres: Unüberhörbar schwingt es in seinen Worten mit.

Aktuell hat Herr Banu große Sorgen, die ihm immer wieder die Tränen in die Augen treiben: Das viele Wegsein habe zu Problemen geführt, sagt er vage. Aber er und seine Frau seien in gutem Kontakt, würden täglich mindestens ein- bis zweimal telefonieren. Mit einem charmant-flehentlichen Blick nach oben und der passenden Geste gen Himmel meint er: Hoffen wir, dass alles wieder gut wird.

Für die wachsende Familie hat er in den vergangenen Jahren das kleine Haus erweitert, das sie ohne Strom und fließendes Wasser bewohnen, ein zusätzliches Stockwerk mit mehreren Zimmern errichtet. Für das Baumaterial hat er einen Kredit mit den üblichen Wucherzinsen aufgenommen, die in wenigen Monaten fällig würden. Und wenn er nicht zahlen könne? Vielleicht verlieren sie das Haus. Und dann? Er zuckt mit den Achseln, senkt den Blick.

Wie er Salzburg empfunden habe, als er das erste Mal hierherkam, frage ich ihn. Einen Moment zögert er. Es habe ihn ehrlich gesagt eingeschüchtert, sagt er. So hell, so fremd, so aufgeräumt. So schön. Jetzt aber kenne er sich hier einigermaßen aus. Ein paar Brocken Deutsch spricht er auch, was man eben so braucht.

Über die Arbeit bei Apropos sei er unendlich froh. Die ganze siebenköpfige Familie lebt von dem kleinen Gehalt. Nach einer Pause setzt er hinzu, dass er einige kenne, die die wirtschaftliche Not in die Kriminalität getrieben habe.

Die Dolmetscherin, der Fotograf und ich, wir spüren für einen Moment das Gewicht auf Herrn Banus Schultern, wir teilen die Schwere im schönen ruhigen Garten des Salzburger Hotels Auersperg, wo vereinzelt Gäste im Schatten an bunten Cocktails nippen. Wir schweigen. Niemand füllt die Stille mit einer Phrase, auf seltsame Art ist dies wohltuend. Herzlich, aber bedrückt verabschieden wir uns.