Jedes Kind soll sein Potenzial entfalten

 

„Kinder sind perfekt, so wie sie sind, und ich will sie darin belassen“, sagt Elisabeth Wasserbauer. Denn für sie scheitern zu viele am bestehenden Schulsystem. Alle Opern von Verdi kennen zu müssen, historische Jahreszahlen auswendig zu lernen oder perfekt Rechtscheiben zu können, sei nicht so wichtig. „Obwohl natürlich viel Tolles im aktuellen Schulsystem steckt, ich habe ja selbst viel davon profitiert“, gibt die ehemalige Leiterin des Kuratoriums für Journalistenausbildung zu.
Heute werde viel Wissen gelehrt, das nicht mehr relevant ist, Bibliothekswissen vermittelt, das in 20 Jahren möglicherweise völlig überholt ist. Sie brauche nur bei sich selbst nachzuschauen, wie viel Gelerntes sie bereits wieder vergessen hat. „Ich will nicht, dass meine Kinder ins System passen müssen, sie sollen die Welt gestalten auf Basis unserer Werte. Diese ruhen auf drei Säulen: Natur, Gemeinschaft und Achtsamkeit. Dazu brauchen sie unser Vorbild – und Liebe, mehr nicht.“

Als sich bei der gebürtigen Oberösterreicherin das erste Kind ankündigte, ist sie mit ihrem Partner in die Nähe von Mattsee gezogen – in ein Haus mit Blick auf den See. „Wir haben hier einen tollen Kindergarten in Mattsee, mit Waldorfpädagogik und in altersgemischten Gruppen. Meine Überlegungen waren: Was, wenn meine beiden Töchter in die Schule kommen? Ich habe das Gefühl, die Kinder wissen bereits so viel Elementares – sie wollen lernen, sind neugierig, wollen die Natur verstehen und wie Verschiedenes funktioniert – und ich möchte, dass sie möglichst wenig davon verlieren“, betont sie. Nach Mutterschutz und Karenz hat sich Elisabeth Wasserbauer völlig neu orientiert und diverse Ausbildungen absolviert. Heute arbeitet sie als Mentaltrainerin, Energetikerin, mit Mediation, TCM und anderen Methoden an der „Renaturierung des Menschen“, wie sie es bezeichnet. Im Zuge der Ausbildungen ist sie mit neuen Ansätzen der Wissenschaft, wie Wissensvermittlung anders gehen könnte, in Berührung gekommen. „Prof. Gerald Hüther beispielsweise, er spricht von der Begeisterung beim Lernen und vom Raus in die Natur, seine Erfolge sind inzwischen wissenschaftlich belegt. Zum Teil sind Methoden der Reformpädagogik, wie Waldorf oder Montessori, heute ohnehin bereits in Bereiche der Regelpädagogik eingeflossen. Für mich sollte es aber mehr sein.“

Weil es keine freie Schule im Bundesland Salzburg gibt, wo neue Ansätze zum Lernen noch vertiefter zur Anwendung kommen können, haben Elisabeth Wasserbauer und fünf weitere Gründungsmitglieder, die ihre Überzeugungen teilen, den Verein „Lotus“ gegründet. Seit etwa eineinhalb Jahren arbeiten sie daran, diese freie Schule zu gründen, haben ein Leitbild erstellt, ein pädagogisches Konzept, die Organisationsstatuten und eine Webseite. Derzeit ist der Verein auf der Suche nach einem geeigneten Haus mit den passenden Räumen, um hoffentlich im Schuljahr 2021/22 mit zehn bis 20 Kindern von sechs bis 15 Jahren starten zu können. „Wir sind sehr zuversichtlich, aber wenn es sich nicht so rasch realisieren lässt, wollen wir spätesten 2022 starten. Es besteht bereits jetzt eine größere Nachfrage, als wir geschätzt haben.“

In eine ähnliche Richtung denkt Romy Sigl, die vor acht Jahren „Coworking Salzburg“ gegründet hat. Ihr Leitspruch, den sie täglich umsetzt: „Do what you love“, frei übersetzt heißt das: Tu, was dich glücklich macht. „Ich habe das Arbeiten aus dem tristen Winkel herausgeholt, denn Arbeit darf richtig Spaß machen“, sagt sie und genießt die Freiheiten, die sie sich damit erkämpft hat. Ebenso darf Lernen Spaß machen, was sie mit der von ihr im Team entwickelten Initiative Colearning umsetzt. „Auch das Lernen haben wir aus der Mühsam-Ecke herausgeholt.“

Hauptsächlich geht es darum, Stärken zu stärken, Potenziale zu entdecken und zu fördern, auch Dinge ausprobieren zu lassen. „Der bekannte Genetiker Markus Hengstschläger sagt z. B., dass in Österreich die Kultur herrscht, uns gegenseitig zum Durchschnitt zu trimmen. Aber jeder hat sein Talent woanders – und das soll ja entdeckt und gefördert werden.“ Insgesamt hat sie jedenfalls enorm viele Übereinstimmungen beim „Lotus“-Konzept entdeckt und war derart begeistert, dass der Wunsch nach einer Kooperation entstanden ist.

Für ihren dreijährigen Sohn Matheo wälzt sie seit geraumer Zeit Gedanken, wie seine Schulzeit aussehen soll. „Da bin ich Elisabeth Wasserbauer und ihren Vereinsmitgliedern sehr dankbar für die bisherige Arbeit, die sie geleistet haben“, gesteht die Coworking-Gründerin. Sie kann sich nicht vorstellen, dass ihr lebhaftes Kind unbeschadet eine Volksschule überstehen werde, wo es vier Stunden lang still sitzen soll. „Diese Energie will ich ihm aber nicht abtrainieren, sie soll bleiben, auch seine Kreativität soll so nicht verloren gehen. Denn ich weiß, dass er bestimmte Dinge macht, Aufgaben löst, wenn er selbst dazu bereit ist“, betont Romy Sigl.

Derzeit beraten die beiden Pionierinnen, wie die künftige Zusammenarbeit ausschauen könnte. Eine gute Möglichkeit bietet dazu die Nachmittagsbetreuung, die „Lotus“ nicht leisten kann. „Wir haben ja auch am Nachmittag einen pädagogischen Auftrag und hier würde Colearning sehr gut hereinpassen“, sagt Elisabeth Wasserbauer. „Wir haben die Vision, das gemeinsam umzusetzen“, ergänzt Romy Sigl. Sie kann sich vorstellen, Lernunterstützung bei diversen Projekten zu erarbeiten, aber auch, dass Coworker eingebunden werden, bei Workshops ihre Projekte vorstellen, damit Kinder die Arbeitspraxis erleben. „Bei Coworking sind wir da gerade in der Recherche-Phase, wie das möglich ist. Aber es kann ja jetzt durch die mögliche Zusammenarbeit schnell gehen“, freuen sich beide.