Geschichten über das Leben

 

Eva Daspelgruber mag ihre Mitmenschen. Darum hat sie ihnen auch gleich ein Buch gewidmet. In „Menschenliebe“ geht es um das Miteinander teilen und Zusammenstehen, um Unterstützung und Mitgefühl. Es geht um manchmal kleine Gesten, die doch für andere die Welt bedeuten können. Die herzerwärmenden Geschichten zeigen, dass die Vielfalt des Lebens auf jeden Fall bereichernd ist.

von Eva Daspelgruber

 

Löffel

Es ist ein heißer Sommertag Ende August. Ein Tag, der mein Leben für immer verändern wird. Die Kinder sind im Freibad, ich sitze vor dem Computer und lese bei einer Facebook-Freundin, dass am Bahnhof Hilfe gebraucht wird. Züge würden von Ungarn kommend durchfahren und die Passagiere Wasser und Lebensmittel brauchen.
Ich schnappe meinen Autoschlüssel, fahre zum nächstgelegenen Supermarkt, räume meinen Kofferraum mit Mineralwasser, Obst und Nüssen voll und erreiche bald den Bahnhof. Vom Parkplatz aus mache ich mich – mit ein paar Verschnaufpausen – auf den Weg zum genannten Bahnsteig. Als ich die Treppe nach oben erklommen habe, fährt auch schon ein Zug ein. Viele Hände strecken sich mir entgegen und ich reiche den Menschen meine mitgebrachten Sachen. Ein paar Minuten später stehe ich mit einem leeren Einkaufskorb und verdutztem Gesicht da. Das ist mir gerade alles zu schnell gegangen.
Ich halte Ausschau nach den anderen Helfer*innen. Gemeinsam gehen wir im Supermarkt am Bahnhof einkaufen, denn der nächste Zug wird bald kommen. Als ich mich mit meinem beladenen Einkaufswagen an der Kassa anstelle, fragt mich die Frau hinter mir in der Schlange, für wen wir einkaufen würden. Als ich es ihr sage, steckt sie mir zehn Euro zu. Ich soll damit beim nächsten Mal etwas in ihrem Namen kaufen. Wieder oben am Bahnsteig packen wir die erworbenen Dinge in kleine Sackerl, damit wir sie besser aufteilen können. Und wieder kommt ein Zug.

Eine ältere Dame, die am gegenüberliegenden Bahnsteig wartet, hat die letzte Verteilung beobachtet. Sie kommt zu mir und schenkt mir ihren Einkauf – Brioche, Kekse und eine große Tafel Schokolade. Letztere soll ich essen, meint sie. Ich bin überwältigt und zutiefst berührt. Aber nicht lange, denn der nächste Zug fährt ein.
Dann geht es wieder in den Supermarkt, da unsere Vorräte so gut wie aufgebraucht sind. Einer meiner Begleiter meint, es wäre gut, wenn wir Babynahrung kaufen würden. Doch leider sind die Plastiklöffel, die er beim letzten Einkauf mitgenommen hat, nun schon ausverkauft. Die sind aber dringend notwendig.Kein Problem, meine ich, es gibt am Bahnhof ein Fastfood-Lokal, dort kann ich welche organisieren. Ich spreche dort die erste freie Mitarbeiterin an und bitte sie um eine Handvoll Löffel. Da muss sie zuerst mit dem Chef sprechen, meint sie. Als sie zurückkommt, teilt sie mir mit, dass sie mir nur einen geben kann, mehr nicht. Ich schüttle ungläubig den Kopf. Wie bitte? Hier gibt es Tonnen von Strohhalmen und Servietten zur freien Entnahme und sie könne mir keine Löffel geben? Nein, nur einen, wiederholt sie.
Und dann passiert etwas Wunderbares: Die umstehenden Leute, die unsere Unterhaltung mitbekommen haben, verlangen alle einen Löffel zu ihrer Bestellung. Und dann geben sie ihn mir. Ich bin dermaßen gerührt, dass mir zum Heulen ist. Danke euch, ihr lieben Unbekannten!

 

Wirklichkeiten

Ein paarmal im Jahr rücken meine Kollegin und ich aus, um ehrenamtlich in Nachbarschaftskonflikten zu vermitteln. Es ist üblich, dass wir zuerst Einzelgespräche führen, um uns einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Dabei ergründen wir auch die Bereitschaft, sich zusammen an einen Tisch zu setzen und gemeinsam an einer für alle passenden Lösung zu arbeiten. Dass dabei die „Wirklichkeiten“ der Konfliktparteien weit auseinandergehen, können wir heute wieder einmal erleben.
Wir haben gleich zwei Termine hintereinander, erst bei dem Herrn, der den Stein für die Vermittlung ins Rollen gebracht hat, dann bei seiner Nachbarin und ihrem Sohn.
Die erste Konfliktpartei empfängt uns freundlich, er bietet uns Kaffee an und beginnt mit seinen Erzählungen über das für ihn mittlerweile unerträgliche Zusammenleben mit den Nachbarn. Früher hat er alles nur von den Erzählungen seiner Frau mitbekommen, meint er, aber jetzt, wo er regelmäßig Home-Office-Tage hat und in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock sitzt, da bekommt er so einiges selbst mit. Die Nachbarin und ihr erwachsener Sohn machen ihm und seiner Familie das Leben sehr schwer. Früher war noch die „Oma“ da, die mochte er, aber die ist mittlerweile verstorben.

Nach diesem Termin haben wir zwanzig Minuten Zeit und tauschen uns kurz aus. Dann läuten wir beim Nachbarhaus.
Natürlich öffnet uns statt der „alten Hexe“, als die sie eben noch beschrieben wurde, eine freundliche ältere Dame. Noch einmal mit Kaffee versorgt, bekommen wir zu hören, was für ein arger Mensch der Nachbar nicht wäre. Vor allem jetzt, da er arbeitslos ist. Arbeitslos? Ich muss mich in diesem Moment extrem unter Kontrolle halten, um nicht laut loszulachen und vermeide, meine Kollegin anzusehen, der es – wie ich sie kenne – wohl gerade ähnlich geht. Er, der im mittleren Management tätig ist – wie er (zu) oft im Gespräch erwähnte – wird gleich nebenan als daheim herumsitzender Arbeitsloser gesehen.
Das Gespräch dauert noch eine Weile, da die Dame sehr redselig ist und auch ihr Sohn einiges an die Frau bringen möchte. Wir hören interessiert zu, da bewegt sich etwas im Hintergrund … eine alte Frau kommt langsam die Treppe herunter. Die Oma? Die Oma!
„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ – fragte Paul Watzlawick vor mehr als 40 Jahren. Genau das fällt mir beim Heimradeln ein. Zwei Nachbarn, zwei Wirklichkeiten – die Wahrheit wird irgendwo in der Mitte liegen.

 

Weitere herzerwärmende Geschichten findest du im neuen Apropos, erhältlich auf Salzburgs Straßen. 🙂