„Eigentlich bin ich Psychologe“

 

Autorin Petra Hartlieb trifft Verkäufer Aurel Temelie

von Petra Hartlieb

Um zehn Uhr, spätestens halb elf, beginnt Aurel Temelies Schicht beim Spar. Er ist nicht dafür zuständig, das Gemüse einzuräumen oder zu überprüfen, ob das Kühlregal die richtige Temperatur hat, obwohl er das alles ebenfalls gut könnte. Doch Aurel ist kein Angestellter des Spar-Konzerns, und er steht auch nicht im Supermarkt, sondern davor – denn er ist seit fünfzehn Jahren Straßenzeitungsverkäufer.

„Ich stehe nicht draußen vor dem Geschäft, dafür bin ich zu alt“, sagt er lachend. „Ich stehe drinnen im Eingangsbereich. Da ist es warm und trocken, und es gibt ein Klo.“

Seit fünfzehn Jahren verkauft der Rumäne Aurel Temelie die Straßenzeitung Apropos, und zwar immer am gleichen Standort: der Spar-Filiale in Gneis. Sechs Filialleiter hat er in all den Jahren kommen und gehen sehen – er ist geblieben.

Als er mir erzählt, dass er jeden Tag eine Zugfahrt von je einer Stunde am Morgen und am Abend auf sich nimmt, weil es für ihn unbedingt dieser Standort sein muss, denke ich darüber nach, ob ich mich je gefragt habe, wohin denn der Augustin-Verkäufer am Abend verschwindet, wenn er seinen Tag gegenüber meiner Buchhandlung in Wien beendet. Oder die alte Frau vor dem Hofer, bei dem ich meinen Wocheneinkauf erledige.

„Früher hab ich näher gewohnt, aber in Salzburg kann man nicht leben, das ist zu teuer.“ Er schwärmt von seinem Häuschen in Schneegattern, wo er aus dem Fenster schaut und in den Wald blickt. „Ich brauche das“, sagt er, „die Ruhe, die Natur.“ Aber den Standort wechseln? Das kommt für ihn nicht infrage. Lieber nimmt er den langen Weg in Kauf, denn dieser Spar in Gneis ist seine fixe Arbeitsstelle, und die wechselt man nicht so einfach. Auch wenn Aurel Temelie nicht auf der Gehaltsliste des Lebensmittelkonzerns steht, gehört er doch fest dazu. Er hilft älteren Kunden beim Einpacken, räumt Ware weg, die versehentlich auf dem Kassenband gelandet ist, schiebt Einkaufswagen zurück und trägt schwere Sackerl zum Auto, manchmal sogar bis nach Hause.

Er lacht verschmitzt, als ich ihn frage, wie alt er sei, und nimmt einen Schluck Fanta. „Was glaubst du?“, grinst er mich an.
„Keine Ahnung. Fünfundfünfzig? Sechzig?“ Ich bin nicht gut im Alter-Schätzen.

„Siebzig“, antwortet er stolz, „und alles gesund.“ In ein paar Jahren will er sich zur Ruhe setzen, dann geht es zurück nach Craiova – von seinem Ersparten können er und seine Frau gut leben. Auch seinen jährlichen Urlaub verbringt er in der alten Heimat: „Im Sommer geh ich immer zum großen Service nach Rumänien“, erzählt er lachend, „Röntgen, Zahnarzt, Kontrolle, Massage – dann bin ich wieder wie neu!“

Inzwischen hat er mehr als nur eine Heimat. Salzburg ist längst zum Mittelpunkt seines Lebens geworden: Seine Frau lebt hier, die beiden Söhne, die Schwiegertöchter und die Enkel ebenso. „Die haben eine eigene Putzfirma in Salzburg“, erzählt er stolz. Als ich ihn frage, was er in seiner Jugend einmal werden wollte, überlegt er kurz und sagt dann: „Ich wollte vor allem die Welt sehen. Raus aus Rumänien.“ Seine Ausbildung ermöglichte ihm das auch. Irgendwas mit Automechanik und Elektrik, ganz genau konnte er es mir nicht erklären, und auch die Übersetzerin, die uns beim Gespräch hilft, kann den Fachbegriff nicht benennen. „Egal“, sagt er und macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ich war Spezialist. In meiner Stadt konnten das nur fünf Leute“, erklärt er stolz.

Doch das Leben unter dem Ceaușescu-Regime war hart. „Man konnte nichts verdienen, und es war alles so eng. Viele gingen ins Ausland, wenn sie konnten.“ Auch er. Er war in Libyen, Belgien, Italien, und irgendwann landete er schließlich in Österreich und arbeitete am Bau. „Fast vier Jahre hab ich geschuftet, schwere Arbeit, immer draußen, bei jedem Wetter. Und so jung war ich auch nicht mehr.“ Dann sah er in der Stadt immer wieder Zeitungsverkäufer und ging schließlich ins Büro von Apropos. „Seitdem verkauf ich die Zeitung, und ich liebe meine Arbeit“, sagt er strahlend.

„Ich kaufe die Zeitung um einen Euro fünfzig und verkaufe sie um drei Euro“, erklärt Aurel das Modell. „Und viele, die mich kennen, geben auch mehr. Ein Problem ist, dass die Zeitung ja nur einmal im Monat erscheint und die Leute meist nur ein Exemplar kaufen.“ Jammern liegt Aurel jedoch nicht. Er erzählt, dass viele ihm den Euro vom Einkaufswagen geben oder ein kleines Trinkgeld, wenn er beim Einpacken und Tragen hilft.
Ich denke an eine meiner Aufgaben als Buchhändlerin, nämlich Büchertische bei Veranstaltungen, und erzähle Aurel, dass unsere beiden Jobs sich ein bisschen ähneln. „Weißt du auch immer schon, wenn eine Person zu dir schlendert, ob sie was kaufen wird?“, frage ich ihn. „Natürlich“, lacht er. „Ich sehe das Gesicht, die Augen, schaue, wie der Mensch geht – und dann weiß ich es schon!“ Auf meine Frage, ob er auch ein bisschen Psychologe sei, stimmt er sofort zu: „Klar! Ich habe so viele Jahre Erfahrung mit den Menschen. Und wenn ich sehe, dass jemand zufrieden ist, dann bin ich es auch.“ Frauen, sagt er, seien oft großzügiger, die Jungen hätten meist kein Geld. Er bittet niemanden, etwas zu kaufen – das ist auch eine Regel bei der Zeitung. „Ich biete sie nur an.“

Was Temelie besonders wichtig ist: „Ich hatte in fünfzehn Jahren nie einen Streit – weder mit der Polizei noch mit Passanten.“ Dann fügt er hinzu: „Weißt du, ich bin alt. Mir sagt keiner mehr, ich soll arbeiten gehen. Ich habe vierzig Jahre gearbeitet. Jetzt bessere ich meine Pension auf.“

Salzburg ist eine Stadt voller Gegensätze, doch Temelie kennt alles. „Meine Kundschaft ist gemischt – reich, arm, egal. Alle geben ein bisschen. Weil ich hilfsbereit bin. Und weil ich jeden Tag da bin.“ Zu Weihnachten und Ostern seien die Leute besonders großzügig.

Als ich ihn frage, ob er sich für Politik interessiert, nickt er. „Aber Lokalpolitik ist mir ziemlich egal“, lacht er. Ihn beschäftigt mehr, was in der EU passiert, wie Europa zusammenarbeitet. Und selbstverständlich nimmt er an den Wahlen in Rumänien teil – das ist heute viel einfacher als früher, denn mittlerweile gibt es ein Konsulat in Salzburg. Temelie schwärmt von der aktiven rumänischen Gemeinde hier, die sich regelmäßig in der Kirche und zu Festen trifft. „Das macht vieles leichter“, bestätigt er.

Auf meine Frage, wie lange er seine Arbeit noch machen will, überlegt Temelie kurz und sagt: „Ein paar Jahre sicher noch. Aber wenn ich achtzig bin, höre ich auf. Vielleicht auch später. Mal sehen.“