Die Stillen unter uns
In einer lauten Welt verschaffen sich auch leisere Menschen gut Gehör – vorausgesetzt, sie wissen um ihre Stärken. Bestseller-Autorin Sylvia Löhken erzählt im Apropos-Interview, weshalb stille Menschen oft das geheime Zentrum einer Gruppe sind, wie sie sich im Unterschied zu Extrovertierten am besten regenerieren und weshalb die meisten Nobelpreisträger Introvertierte sind.
Was bedeutet für Sie Stille?
Sylvia Löhken: Stille ist für mich ein Kraftort, an dem ich meine Batterien wieder aufladen kann und in dem sich meine besten Ideen entwickeln.
Wie kommen Sie in die Stille?
Sylvia Löhken: Indem ich weggehe von allem Betriebsamen. Das funktioniert sehr gut in der Natur oder auch am Schreibtisch. Die Voraussetzung dafür ist, dass keine Menschen da sind. Das bedeutet nicht, dass ich keine Menschen mag. Es ist nur am besten möglich, die Kraft der Stille zu entdecken, wenn keine Impulse oder Stimulationen von außen kommen.
Sie sprechen gerne von leisen Menschen. Was ist ein leiser Mensch?
Sylvia Löhken: Ein leiser Mensch ist nach innen gewandt, seine Energie richtet sich nach innen. Er macht vielleicht viele Worte, aber er braucht immer wieder die Stille, um sich aufzuladen.
Sie haben den Bestseller „Leise Menschen – starke Wirkung“ geschrieben, der 500.000 Mal verkauft und in 30 Sprachen übersetzt wurde. Weshalb hat Ihr Buch derart eingeschlagen?
Sylvia Löhken: Wahrscheinlich, weil es in der Luft lag. Manchmal poppt eine Idee unabhängig voneinander zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten auf. Als ich mein Buch 2012 veröffent-lichte, erschien auch das Buch „Still. Die Kraft der Introvertierten“ der Amerikanerin Susan Cain. Ich denke, dass viele leise, introvertierte Menschen sehr erleichtert waren, dass mit ihnen alles in Ordnung ist, auch wenn sie dem gängigen Persönlichkeits-Ideal eines extrovertierten Erfolgsmenschen nicht entsprechen. Unsere Gesellschaft vermittelt uns oft, dass es extrovertierte Stärken sind, die ein erfolgreiches Leben ermöglichen. Nämlich, sich gut zu präsentieren und einen starken ersten Eindruck zu hinterlassen – etwas, das Extrovertierte mit Leichtigkeit beherrschen. Dabei haben leise Menschen enorme Stärken. Es geht darum, diese wie einen Schatz zu heben.
Wie schaut dieser Schatz aus?
Sylvia Löhken: Gehirne von introvertierten und extrovertierten Menschen haben eine andere Gehirnstruktur, das lässt sich mittels Scanner-Bildern gut ablesen. Leise Menschen sind vorsichtig, überlegend und prüfen, ob sie alles haben, um Dinge zu lösen. Sie können zuhören und haben die Stärke des beharrlichen Dranbleibens. Laute Menschen sind manchmal nicht so erfolgreich, weil sie schnell ungeduldig werden und die Flinte ins Korn werfen. Viele der erfolgreichsten Menschen auf diesem Planeten sind introvertiert. Eine leise Stärke ist es, in die Ruhe zu gehen, sich zu konzentrieren und Klarheit inmitten komplexer Situationen zu finden. Es tut unserer heutigen Welt unheimlich gut, die Stille nicht nur auszuhalten, sondern auch zu kultivieren. Oft sind leise Menschen der Fels in der Brandung und das geheime Zentrum einer Gruppe. Unabhängigkeit ist eine weitere Stärke. Sie heulen nicht mit den Wölfen, sondern machen sich eigene Gedanken und kommen daher zu spannenden, tiefgründigen Ergebnissen. Und sie können sich schriftlich gut ausdrücken und schreiben gerne. Wenn ich die Wahl zwischen Mail oder Telefon habe in der Kommunikation, wähle ich immer die Mail. Hier kann ich strukturieren, was und wie ich ausdrücken möchte, und muss weder sofort antworten noch reagieren.
Inwiefern sind Introvertierte oft das geheime Zentrum einer Gruppe?
Sylvia Löhken: Introvertierte sprechen in Gruppensituationen eher selten. Sie hören jedoch sehr gut zu und dienen somit der Gruppe, indem sie die wesentlichen Zusammenhänge erfassen, strukturieren und gut auf den Punkt bringen. Auch ihr Einfühlungsvermögen ist sehr gut ausgeprägt. Sie können sich gut in ihr Gegenüber hineinversetzen und überlegen, was die andere Person braucht, damit es ihr gut geht. Sie spüren sehr viel Atmosphärisches, das zwischen Menschen abläuft, und versuchen allfällige Spannungsverhältnisse aufzulösen.