„Die Kinder sollen nicht mehr betteln müssen“

 

von Wilhelm Ortmayr

 

Wir haben uns an sie gewöhnt – samt „Alles Gute la familia!“: Die paar Dutzend Bettler, die 2015 noch für heillose Aufregung und viel politisches Hickhack gesorgt hatten, sind längst Teil des Salzburger Stadtbildes geworden. Ignoriert von vielen, unterstützt von einigen, insgesamt geduldet. Die Schicksalsgeschichten auf ihren kleinen Pappkartontäfelchen mögen erfunden sein oder nicht – es tut nichts zur Sache. Wer gesehen hat, in welchem Elend die Roma in ihrer rumänischen Heimat hausen, welche Chancen und Perspektiven sie dort haben, denkt längst nicht mehr darüber nach.

Gut zwei Drittel der Salzburger Bettler stammen aus dem Dorf Pauleasca. Es liegt in einem Gebirgstal der südlichen Karpaten, nahe der Industriestadt Pitesti in der Walachei. In Pitesti gibt es eine Autofabrik, die nach der Wende von Renault übernommen wurde. Mehr als 10.000 Menschen wurden arbeitslos, zuallererst natürlich die ungelernten Arbeitskräfte und damit vor allem Roma, von denen der Großteil fast nicht lesen und schreiben kann. Sie blieben dennoch in der Gegend und siedelten in den nicht erschlossenen Tälern, oft ohne Strom, ohne Fließwasser, teils in nicht winterfesten Baracken. Auf einen Job in ihrer Heimat haben sie so gut wie keine Aussicht. Deshalb fahren sie nach Salzburg „arbeiten“, wie sie es nennen.

Eine Salzburger Initiative rund um den Malteserorden und seine Mitarbeiter hat es sich zum Ziel gesetzt, dass aus diesem „Bettlerleben“ kein Kreislauf wird. „Den Kindern der Notreisenden müssen wir eine Chance geben“, sagt Franz Salm-Reifferscheidt, der als Roma-Sonderbotschafter des Malteserordens bereits 22 Sozial- und Bildungszentren für Menschen der größten europäischen Minorität (ca. 15 Millionen Menschen) errichtet hat, darunter sehr viele in Ungarn, einige in der Slowakei, in Rumänien und anderen Ländern. Nun soll in Pauleasca ein solches Gemeinschaftszentrum gebaut werden. Das Projekt trägt nicht ganz zufällig den Namen „safe start“, denn alles dreht sich um die Kinder und das Ziel, ihnen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen und zu ihrer Integration beizutragen.

Das Zentrum am Rand der Karpaten besteht aus sieben Bereichen. Darunter ganz zuvorderst: sanitäre Infrastruktur mit Unterricht in Hygiene. Das ist die Grundvoraussetzung, um in der Schule von anderen Kindern und deren Eltern akzeptiert zu werden. Wer stinkt und verlaust ist, wird ausgegrenzt. Darüber hinaus können natürlich auch Erwachsene kommen und sich ausgiebig duschen. Außerdem gibt es in einer kleinen Ambulanz medizinische Grundversorgung, denn Roma haben eine große Scheu, in ein Krankenhaus zu gehen (Analphabetismus, kein „offizieller“ Wohnsitz).

Für die Kleinsten gibt es einen großen Spielplatz und einen Kindergarten, ja bereits Schwangere und Mütter mit Säuglingen werden insofern betreut, als man sie in Sachen Hygiene und gesunde Ernährung schult. Dadurch kann Vertrauen aufgebaut werden und das ist ein entscheidender Faktor im späteren Leben der Kinder. Denn der in unseren Breiten selbstverständliche Grundkonsens, dass Bildung und Leistung die Schlüsselfaktoren zum sozialen Aufstieg und für eine gute Zukunft sind, ist den Roma weitgehend unbekannt. „Begriffe wie Zukunft oder Vorsorge sind ihnen nahezu fremd. Sie leben von einem Tag auf den nächsten und sehr oft in kollektiver Apathie“, schildert Salm-Reifferscheidt. >>

Deshalb sei es extrem wichtig, dass die Kinder vor allem schulisch am Ball bleiben. Dabei hilft (fast mehr als alles andere) ein gutes warmes Mittagessen, denn für diesen „Luxus“ gehen die Kinder gerne zur Schule und auch in die Nachmittagsbetreuung. „Roma-Kinder sollen gute Schüler sein, die Freude am Lernen haben und integriert sind“, lautet das Credo der Malteser. Nachhilfe und Unterstützung in schulischen Dingen sind daher Eckpfeiler des Zentrums. Denn noch sind die Drop-out-Raten deutlich zu hoch – auch auf Druck mancher Eltern, die die Kinder möglichst bald in einer „Erwerbstätigkeit“ sehen wollen. Um diesbezüglich eine Perspektive zu bieten, schafft das Malteser-Projekt auch Ausbildungsplätze für Berufe, die in der Region tatsächlich nachgefragt sind. „Wir begleiten die Kinder, bis sie entweder eine abgeschlossene Berufsausbildung haben oder sogar eine höhere Bildungseinrichtung besuchen können.“

Der Integrations- und Bildungsauftrag ist aber noch weiter gefasst: Man möchte auch in Pauleasca eine kleine Musikschule betreiben und dort auch die Roma-Kultur pflegen. Denn Roma sind im Allgemeinen äußerst talentierte Musiker und Tänzer – und sie können zumindest so gut reiten, wie Österreicher Ski fahren. Daher gibt es beispielsweise im Malteser-Zentrum im siebenbürgischen Köröspatak eigenen Reit- und Voltigierunterricht – mit sportlich herausragenden Erfolgen wie neuerdings einem Staatsmeistertitel. Auch Sport integriert.

Die Grundschule in Köröspatak, die mehrheitlich von Roma-Kindern besucht wird, war bis vor sieben Jahren die schlechteste des ganzen Distriktes. Heute ist sie im oberen Mittelfeld, wie man von Tests weiß und vom Feedback der Lehrer. „Wir fragen nach Gründung eines Zentrums stets nach sechs bis zwölf Monaten die Lehrer in den Schulen, was sich im Verhalten der Kinder verändert habe. Die Antwort ist immer die gleiche: Die Kinder haben ein höheres Selbstwertgefühl, sind sauber und höflich und deutlich besser in der Schule“, freut sich Salm-Reifferscheidt über die sichtbaren Erfolge der Roma-Zentren der Malteser. In Satu Mare, im Nordwesten von Rumänien, hatten die guten schulischen Leistungen zur Folge, dass Nicht-Roma-Eltern, die am Anfang über die Arbeit des Sozialzentrums die Nase gerümpft hatten, nach einiger Zeit etwas verschämt anfragten, ob sie ihre Kinder nicht auch in die Nachmittagsbetreuung schicken könnten. Integration andersrum.

Geführt wird das Zentrum in Pauleasca von professionellen einheimischen Kräften. In Rumänien gibt es seit vielen Jahren die Organisation Maltez, den rumänischen Malteser-Hospitaldienst mit weit über 1.000 Mitarbeitern, viele davon ehrenamtlich. Die Sozialarbeiterinnen vor Ort mussten in ihrer bisherigen dreijährigen Tätigkeit einen Raum in der Schule mitbenützen. Er platzt aus allen Nähten, eine Ausweitung des Angebotes wäre nicht mehr möglich gewesen. Dennoch – in Rumänien mahlen viele Mühlen sehr langsam – hat es über zwei Jahre gedauert, bis die Malteser im Februar dieses Jahres mit dem Bau beginnen konnten. Das neue Zentrum befindet sich in der Mitte des lang gestreckten Tals und wird im Herbst fertiggestellt. Die Kosten belaufen sich auf 300.000 Euro.

„Wir sind froh, dass nun endlich begonnen wurde, denn über die Jahre haben wir viele Familien aus Pauleasca, zunächst in Salzburg und dann vor Ort kennengelernt“, erzählt Stefanie Lanzdorf, die in Salzburg für die Projektkoordination verantwortlich ist. „Die Malteser leisten in Pauleasca wirklich tolle Arbeit“, schließlich sei die Unterstützung für die Kinder kein Gießkannenprojekt, sondern langfristig und nachhaltig.
Umso mehr sind Lanzdorf und Salm Reifferscheidt erstaunt, dass sich beispielsweise die Stadt Salzburg an der Finanzierung des Zentrums für die Kinder der „Salzburger“ Bettler bisher – obwohl Mittel in Aussicht gestellt wurden – mit keinem Cent beteiligt hat. „Man hat uns letztlich recht kühl wissen lassen, dass man ohnehin ein anderes Projekt in Rumänien unterstütze.“
Für die Salzburger Malteser ist dies kein Grund zum Aufgeben. Man hofft auf Unterstützung aus der Zivilgesellschaft. „Für die Kinder der Notreisenden wünschen wir uns, dass sie nicht mehr betteln gehen müssen, sondern ein erfülltes Leben in der Heimat führen“, so Lanzdorf und Salm-Reifferscheidt. Nach Salzburg soll die nächste Roma-Generation aus Pauleasca nur noch auf Urlaub kommen, oder vielleicht sogar zum Studieren.