Der Affe fällt nicht weit vom Stamm

 

Sprichwörter haben fast immer recht. Sie sind deshalb so beliebt, weil sie Antworten auf alle Lebenslagen geben.

 

von Georg Wimmer

 

Großmütter sind der Inbegriff von Klugheit. Niemand sonst steht wie sie für die Überlieferung von althergebrachtem Wissen. Meine Großmütter waren sehr klug, und vielleicht haben sie uns gerade deshalb mit Sprichwörtern verschont. In unserer Familie wurde der Bedarf an täglichen Weisheiten mit einem Kalender der örtlichen Raiffeisenkasse gedeckt, der in der Küche neben der Kredenz hing und von dem mein Vater jeden Morgen mit großer Sorgfalt ein Blatt abriss. Kalendersprüche sind die kleinen Geschwister der Sprichwörter. Bei Kalendersprüchen handelt es sich meistens um Zitate von historischen Persönlichkeiten, sie sind so gesehen intellektuelle Eintagsfliegen. Sprichwörter hingegen sind das Resultat von jahrhundertelangen Erfahrungen, sie bringen die Denk- und Lebensweisen ganzer Völker und Kulturen auf den Punkt. Dass da die eine oder andere falsche Erkenntnis dabei sein kann, liegt in der Natur der Sache. Ausnahmen bestätigen die Regel, heißt es.

Sprichwörter liefern Ratschläge, sie spenden Trost und vermitteln gesellschaftlich anerkannte Werte. Viele wollen uns das richtige Verhalten lehren: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht … Sie warnen vor den Folgen unerwünschten Benehmens: Wer nicht hören will, muss fühlen. Sprichwörter geben Hoffnung (Die Zeit heilt alle Wunden), sie erklären komplexe politische Vorgänge (Eine Hand wäscht die andere) und sie schenken Zuversicht in schwierigen Lebenslagen: Eine andere Mutter hat auch ein schönes Kind. Diese Form der verbalen Bewältigung helfe, das Selbstvertrauen bei Misserfolgen oder Enttäuschungen hochzuhalten und nach vorne zu schauen, erklärt der Münchner Sozialpsychologe Dieter Frey, der den Wahrheitsgehalt und die Wirkung von Sprichwörtern untersucht hat. Bei vielen Ereignissen, so Frey, neigen wir Menschen im Nachhinein zur Behauptung, dass wir das Geschehen ohnehin vorhergesagt haben. Das verschafft uns das Gefühl, dass wir unsere Umwelt kontrollieren oder zumindest gut erklären können. Frei nach dem Motto: Wenn schon nicht auf die anderen, so kann ich mich wenigstens auf mein eigenes Urteil verlassen.

 

Aus Erfahrung weise

Wann verwenden wir Sprichwörter? Wenn sie passen. Wenn ein Erlebnis genau das bestätigt, was das Sprichwort sagt. Das kann eine Feststellung sein wie Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken oder ein Ratschlag: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Sprichwörter können völlig banale Anleitungen enthalten wie jene, wonach zuerst die Arbeit kommt und dann das Spiel. So einen uralten Spruch bekommen Kinder selbst im Zeitalter von Playstation und Co. noch zu hören. Laut einer litera-turwissenschaftlichen Definition ist ein Sprichwort ein „allgemein anerkannter, leicht einprägsamer und volkstümlicher Satz, der eine Lebensregel oder Weisheit prägnant und kurz zum Ausdruck bringt“. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Was ein gutes Sprichwort ist, das erkennen wir selbst dann noch, wenn es uns in einer leicht veränderten oder vermischten Form begegnet. Schuster, bleib auf deiner Leiter. Das Leben ist kein Ponyschlecken. Der Affe fällt nicht weit vom Stamm. Bemerkenswert daran ist: Über Sprichwörter diskutiert man nicht. Wenn jemand eines raushaut, ist alles gesagt. Und das mit einem Satz, den schon alle kannten und der klingt wie vor vielen Hundert >> Jahren von einem Wortschmied gemacht: Lügen haben kurze Beine. Es ist zudem kein Zufall, dass Sprichwörter im Präsens formuliert sind, also in der Gegenwartsform. Erst dadurch klingen sie so zeitlos und zugleich endgültig wie: Den Letzten beißen die Hunde.