Besondere Stadtführungen
Wer arm ist, neigt dazu, dies zu verbergen. Umso mutiger ist es, wenn sich von Armut betroffene Männer und Frauen aufmachen, anderen Menschen ihre Lebenswelt zu zeigen. Die Schweizer Straßenzeitungskollegin Sybille Roter hat in Basel, Zürich und Bern soziale Stadtrundgänge ins Leben gerufen – und vor kurzem sogar ein internationales Netzwerk mit dem Ziel, den Stadtführerinnen und Stadtführern einen professionellen Austausch unter Gleichgesinnten zu ermöglichen.
Mail-Titelinterview mit Sybille Roter
von Chefredakteurin Michaela Gründler
Was empfinden Sie in Ihrem Leben als besonders?
Sybille Roter: Ich staune immer wieder, wie viele Chancen das Leben bereithält – selbst die vielen verpassten Chancen waren bisher ein Sprungbrett für die eigene Entwicklung. Zudem empfinde ich es als besonders, eine große Vielfalt an Meinungen, Ideen, Haltungen und Ausdrucksformen von Menschen quer durch die Gesellschaft zu erleben – für mich die Basis für Respekt und Offenheit.
Sie organisieren seit 2013 soziale Stadtrundgänge, die von Straßenzeitungsverkäufer*innen der Schweizer Straßenzeitung Surprise in Basel, Bern und Zürich geführt werden. Was ist das Besondere an einem sozialen Stadtrundgang?
Sybille Roter: Die zweistündigen Stadtrundgänge sind eine einmalige Gelegenheit, in direkten Austausch mit Armutsbetroffenen und ehemaligen Obdachlosen zu kommen. Die Besuchergruppen erleben oft das erste Mal ihre eigene Stadt aus einer bisher unbekannten Perspektive. Denn unsere Stadtführer*innen zeigen den Gruppen ihr öffentliches Wohnzimmer, ihren privaten Notschlafplatz oder Institutionen wie Gassenküchen oder Notschlafstellen, die sie in ihren schwierigen Lebenssituationen unterstützen.
Anhand ihrer Lebensgeschichten informieren die Guides über ihren Alltag, die Lebensumstände, die sie in die Armut geführt haben sowie über Missbrauch, Gewalt, mangelnde Chancen in ihren Herkunftsfamilien und ihre Befreiung aus der Opferrolle.
Was sind die Gründe für Armut in der Schweiz?
Sybille Roter: Aktuell sind in der Schweiz rund 1.245.000 Personen von Armut betroffen. Ein Schicksalsschlag, Arbeitsunfall oder ein Firmenkonkurs reichen manchmal, um aus einem bisher geordneten Leben mit Arbeit oder Familie herauszufallen und für lange Zeit nicht mehr auf die Beine zu kommen. Wenn man die Lebenswege unserer Guides versteht, erkennt man das gesellschaftliche System der Armut. Denn auch Armut wird vererbt: Die Herkunftsfamilie entscheidet bereits in früher Kindheit über künftige Chancen oder mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten. Gemeinsam haben unsere Stadtführer*innen deshalb eine Mission: Sie wollen Vorurteile abbauen.
Sie haben die Idee der sozialen Stadtrundgänge von der internationalen Straßenzeitungskonferenz mitgenommen – zu dem Zeitpunkt gab es bereits Touren in Linz, Nürnberg, Hamburg, Hannover oder Stuttgart. Wie haben Ihre Straßenzeitungsverkäufer*innen auf dieses neue Angebot reagiert?
Sybille Roter: Die ersten drei Stadtführenden waren begeistert von der Idee, als Verkäufer des Straßenmagazins nicht nur das Gesicht der Armut zu sein, sondern zur Stimme der Armut auch für andere zu werden. Denn die meisten Betroffenen ziehen sich aus Scham zurück – Armut macht einsam und stumm. Aber die ersten Stadtführer wollten das Gegenteil und ihre Armut öffentlich machen.
Mittlerweile gibt es 13 verschiedene Touren: 15 Stadtführer*-innen erzählen dabei über ihre Lebensbrüche durch Burn-out, Jobverlust, Scheidung oder Todesfälle und die Folgen wie Obdachlosigkeit und mangelnde soziale Teilhabe.
Ihr Weg in die Armut verlief über Sucht, Gewalterfahrungen und psychische Erkrankung – es gibt viele Wege in die Armut. Armut kann jede und jeden treffen. Das sagen alle >> Stadtführer*innen in den drei Städten. Alle hatten früher einmal „ein anderes Leben“. Ab Mitte 2021 wird beispielsweise eine 70-jährige armutsbetroffene Ethnologin eine Tour über Altersarmut anbieten. In der Schweiz sind gerade alleinerziehende Frauen und immer mehr ältere Mitmenschen von Armut betroffen. Aber es ist schwierig, Personen aus diesen beiden Zielgruppen zu finden, die bereit sind, über ihre prekären Lebenssituationen zu sprechen. Um sich vor einer Besuchergruppe als armutsbetroffen zu outen, gehört viel Mut.
Was macht für Sie die Zusammenarbeit mit den armutsbetroffenen Stadtführer*innen so besonders?
Sybille Roter: Faszinierend finde ich, welche spannende Entwicklung sie während der Vorbereitung für ihre neue Rolle durchlaufen: Für einen kompetenten und authentischen Auftritt ist es entscheidend, zuerst den Kreislauf von Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen zu durchbrechen – das ist manchmal ein schmerzhafter Weg. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie hilft, die oftmals verdrängte Vergangenheit fassbarer zu machen. Die Betroffenen sind dabei gezwungen, einen analytischen Blick auf ihr Leben zu werfen. Sie lernen, sich von der persönlich empfundenen Tragik zu distanzieren und können so wieder handlungsfähig werden, statt in der Opferrolle zu verharren.
Es kostet viel Kraft, die eigene Biografie zu reflektieren – und während der fast einjährigen Ausbildung sind sie genötigt, sich ihr zu stellen. Deshalb bewundere ich diese Frauen und Männer für ihren Mut und Überlebenswillen, der sie auch in dunklen Momenten ihres Lebens nicht verlassen hat; aber auch für ihre Sensibilität gegenüber Ausgrenzung und für ihren Gerechtigkeitssinn – ihren Kampf für ihre gesellschaftliche Teilhabe. Und ich schätze ihren oftmals schwarzen Humor – dieser hilft Ängste und Gräben bei den Besuchergruppen zu überwinden.