Auch ich war oft der „Neue“!

 

Wenn es bei Apropos hieß: „Geh einfach rauf, der Matthias ist da!“ bedeutete das folgendes: Matthias Huber, Vertriebsleiter der Salzburger Straßenzeitung, ist im Büro im ersten Stock und hat ein offenes Ohr für dich, wenn du Fragen hast oder Zeitungen holen willst. Falls du ein Problem hast, erzähl es ihm, er hört wirklich gut zu! So wurde Matthias Huber zu „dem Matthias“, wie sein Vorgänger Hans Steininger als „der Hans“ zur Anlaufstelle der rund 150 Verkäufer:innen wurde und es ab Jänner 2023 den neuen Verkaufsleiter Michael als „den Michael“ geben wird.

 

von Christina Repolust

 

Wie dauerte es, bis du für die Verkäufer:innen zu „dem Matthias“ wurdest?

Unseren Verkäufer:innen fällt es relativ leicht, sich auf Veränderungen einzustellen. Außerdem ist Hans Steininger, im VerkäuferInnen-Sprech „der Hans“, noch fünf Stunden im Team. Der Übergang von Hans zu mir ist gut gelungen. Ich kannte Apropos bereits aus meinem Praktikum und hatte klare Vorstellungen von meiner Rolle. Es war witzig, dass mich manche als „Hallo, neuer Chef!“ begrüßten. Das war aber eine Schmeichelei, denn auch der Titel „Chef“ garantiert nicht, dass meine Vorgaben, auch eingehalten wurden. Hier die Balance zwischen Regeln, Vorgaben, Strenge und Toleranz zu finden, war von Situation zu Situation eine Herausforderung. Aber genau dieser Hochseilakt hat gefallen und machte für mich den Reiz der Arbeit aus.

 

Du hast 2017 ein Praktikum bei Apropos absolviert und wurdest anschließend gefragt, die Vertriebskoordination zu übernehmen. Was ist so reizvoll bei Apropos?

Alles! Nein, Scherz! Aber doch, schon: Alles. Hier herrscht immer ein freundlicher und respektvoller Grundton. Egal, wer zu uns kam, wurde erst einmal herzlich willkommen geheißen, bekam einen großen Vorschuss an Wohlwollen und Vertrauen. Außerdem erhielten manche, die Grenzen nicht so schnell akzeptieren, zumeist eine zweite Chance. Ich hatte im Team um die Chefredakteurin Michaela Gründler enormen Rückhalt und natürlich bekam auch ich eine gehörige Portion an Vertrauen und Zutrauen: Matthias, du  machst das schon! Was gibt es Schöneres!

 

Du hast mit Verkäufer:innen aus Österreich, Rumänien und afrikanischen Ländern gearbeitet: Wie konntest Du Dich bei den letztgenannten verständlich machen?

Mit den Asylwerbern aus den afrikanischen Ländern funktioniert die Kommunikation auf Englisch ganz einfach, viele sind ja auch dabei, Deutsch zu lernen. Unsere Firma finanzierte mir außerdem zwei Semester lang einen Rumänisch-Kurs: So lernte ich die Grundgrammatik und konnte mich über einfache Themen einfach verständigen.

 

Wie reagierten die rumänischen Verkäufer:innen darauf?

Erfreut, verwundert und geduldig: Sie haben mir viele Begriffe erklärt und meine Aussprache ausgebessert. Wenn es um die Klärung von wirklich heiklen Problemen geht, ist dann die Übersetzerin dabei: Hier muss klar sein, was gesagt wird und was gemeint ist.

 

Wie konsequent muss der Vertriebskoordinator von Apropos eigentlich wirklich sein?  

Konsequent zu sein gefällt mir als Rollenbeschreibung besser als „streng“. Konsequenz hat sowohl den Einzelnen als auch das große Ganze, die gesamte Verkäufer:innenschar, im Blick. Es geht ums Aufstellen und Einhalten von Regeln: Wer die Straßenzeitung verkauft, den Ausweis trägt, darf nicht betteln. Für die eine Verkäuferin bedeutet betteln, auf der Straße zu sitzen und die Hand aufzuhalten. Für sie ist es nicht betteln, wenn sie ihre Kunden um einen Euro „anhaut“. Wenn ich als Verkaufsleiter hier nicht konsequent bin, schade ich dem Ganzen.

 

In welchen Bereichen musstest du am meisten ordnen bzw. Grenzen ziehen?  

Am meisten musste ich für die große Gruppe der Notreisenden ordnen. In meinen ersten Arbeitswochen war ich noch bereit, ganz Salzburg zu retten und alles zu verstehen. Das habe ich aber schnell gelassen. Wenn etwa ein Rumäne vor einem Supermarkt verkauft und im Winter für mehrere Wochen nach Hause fährt, kommt es vor, dass sich ein anderer Verkäufer auf seinen Platz stellt. Die Kunden sind zufrieden, die Leitung der Supermarktfiliale ist ebenfalls mit dem „Neuen“, der „Neuen“ einverstanden. Dann kommt der rumänische Verkäufer zurück und findet seinen Arbeitsplatz bestens besetzt vor. Im besten Fall kommen die beiden dann mit dem Problem zu mir in die Glockengasse und tragen es nicht lautstark an Ort und Stelle aus.

 

Deine Ambitionen waren und sind hoch. Wie vertrug sich dein Idealismus mit dem Realismus des Alltags.

Ich kam mit der Illusion, dass wir das Armutsproblem in Salzburg lösen können. Wir geben Ausweise aus, wir unterstützen Notreisende und schwupp! Problem gelöst! So war und ist es nicht. Zum Glück gibt es in Salzburg viele Player, die Armutsreisende unterstützen: Wir können hier als Vermittler:innen agieren und an andere Einrichtungen verweisen. Diese Erkenntnis hat mich aber auch entlastet: Wenn jemand aufgrund von Regelverstößen als Verkäufer gesperrt wird, bedeutet das noch nicht das völlige „Aus! Weg!“ aus Salzburg.

 

Wie häufig hast du jemandem eine zweite, dritte und schließlich letzte Chance gegeben?

Darauf kann ich nicht allgemein antworten, denn es kommt immer auf die Person und die Situation an. Häufig hat die zweite Chance die Veränderung zum Guten bewirkt. Außerdem hatte ich hier das gesamte Apropos-Team an meiner Seite, niemand trifft bei uns einsame Entscheidungen. Aber die Entscheidungen, die wir treffen, an die halten wir uns. Na ja, meistens. Von Hans Steininger habe ich gelernt, dass es immer um die Ausgewogenheit zwischen dem Einzelnen und dem großen Ganzen geht. Wir nehmen Beschwerden ernst, gehen den Vorwürfen nach und führen mit den Betreffenden Gespräche.

 

Was war dir ab dem ersten Tag bei Apropos klar, was brachtest du als Lebenserfahrung im Gepäck mit?

Was ich mitbrachte, war das eigene Erleben, der „Neue“ zu sein, also nicht automatisch zu einer Gemeinschaft dazuzugehören. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich sechs Jahre alt war; auf die Scheidung folgten zahlreiche Umzüge: neue Wohnadresse, neues Umfeld, neue Menschen. Ich traf also immer auch auf Leute, die sich als „Eingesessene“ fühlten, manche auch recht selbstherrlich.

 

Du hast du als neue Erfahrung jetzt im Gepäck?

Ich weiß jetzt, dass das Thema Armut, dass das Problem der Notreisenden und Asylwerber:innen immer individuell ist. Da kann ich noch so viel über die Thematik gelesen haben und wissen: Die Person, die vor mir seht, verkörpert das Problem auf ihre ganz individuelle Art. Viele Facetten der Thematik durfte ich erleben und dafür bin ich dankbar. Aber es gibt noch so viele, über die ich nichts weiß und für diese Erkenntnis bin ich noch viel dankbarer.