
Ein Reisender mit Büchern und Dingen
„Bleib noch eine Weile“, so lautet der Titel der 77 Kurz- und Kürzestgeschichten vom großen und kleinen Riesen, die Heinz Janisch für kleine und große Leser:innen schrieb und die im Tyrolia Verlag erschienen sind. „Wie leise muss es sein, dass die Stille im Autobus mit in die Stadt fährt?“ Fragen wie diese stellt der „Meister der leisen Töne“, wie Janisch, Träger der Christine-Nöstlinger-Medaille und des „Nobelpreises der Kinderliteratur“, der Hans-Christian-Andersen-Medaille, genannt wird, mit seiner unverwechselbaren Erzählstimme. Und schon ist es passiert: Man will bleiben. Und zuhören. Und noch ein kleines bisschen bleiben. Und noch ein kleines bisschen länger zuhören. Genau so entstand dieses Interview.
Titelinterview mit Heinz Janisch
von Christina Repolust
Wie kam es zu diesem Buch, dem großen und dem kleinen Riesen und vor allem zu dem Titel?
Heinz Janisch: Ich stelle mir mitunter selbst Schreibaufgaben, damit meine Fantasie nicht zu schläfrig wird. Bei diesem Buch habe ich mir eine leere Schachtel zum Bett gestellt und mir vorgenommen, dass ich jeden Abend – vor dem Schlafengehen – eine kurze Geschichte schreibe. Als Kind erlebt man die Erwachsenen oft als Riesen. So kam ich auf den kleinen und den großen Riesen, wobei der kleine Riese oft mutiger ist als der große.
Ist es nicht ein Widerspruch, eingeladen zu werden, für Kurz- und Kürzestgeschichten noch eine Weile zu bleiben?
Heinz Janisch: Nein, gar nicht! Die Idee war da plötzlich in meinem Kopf – zwei Freunde, die gemeinsam oder allein etwas erleben und sich gegenseitig davon erzählen. Beim Erzählen, beim Miteinander-Sein – überall, wo man sich mit einem Du wohlfühlt, denkt man „Bleib noch eine Weile“. Gemeinsame Zeit ist ein Geschenk. Freundschaftsgeschichten sind wichtig. Nicht nur für Kinder sind gute Freunde kostbar.
Wann haben Sie selbst zum letzten Mal gedacht „Bleib noch eine Weile“ bzw. jemanden gebeten, eine Weile noch zu bleiben?
Heinz Janisch: Das war, als ein Freund aus Italien zu Besuch war und vom Leben am Meer erzählt hat. Da hätte ich gern noch lange zugehört.
Ihre Bilderbücher erzählen auffällig viel vom Reisen. Titel wie „Wo kann ich das Glück suchen“ oder „Die Reise seines Lebens – das Porträt des dänischen Dichters Hans Christian Andersen“ oder „Auf dem Weg“ erzählen von unterschiedlichen Held:innen, die sich auf ebenso unterschiedliche Wege machen. Wie halten Sie es selbst mit dem Bleiben und dem Gehen?
Heinz Janisch: Ich bin gern unterwegs. Ich bin ein Beobachter und Bildersammler. Das kostbarste Gut eines Schriftstellers ist die Neugier. Und die Neugier auf andere Leben, die bringt mich oft ins Gehen oder lockt mich in Gegenden, die ich noch nicht kenne.
Sie sind in Güssing im Südburgenland geboren, zum Studium der Germanistik und Publizistik nach Wien gegangen und haben dort ab 1982 beim Österreichischen Rundfunk als freier Redakteur begonnen. Ihre Reihe „Menschenbilder“ auf Ö1 ist Legende. Wie viele Reisen haben Sie dafür unternommen und welche ist Ihnen besonders in Erinnerung?
Heinz Janisch: Ich habe fast 40 Jahre für die Reihe „Menschenbilder“ gearbeitet. Als ich aufgehört habe, da waren über zweitausend Sendungen im Archiv. Ich habe oft jedes zweite Menschenbild gemacht … Ich war in Schweden bei Astrid Lindgren, in New York beim Komponisten Fritz Spielmann, in Israel beim Autor Schalom Ben-Chorin, in der Schweiz bei Franz Hohler, der mir auf dem Cello vorgespielt hat. Jede Begegnung war anders. Wolf Biermann hat mir ein neues Lied vorgesungen, Yehudi Menuhin hat mir gezeigt, wie er vor jedem Konzert einen Kopfstand macht … Besonders berührt hat mich die Begegnung mit der Lyrikerin Hilde Domin in ihrem Haus in Heidelberg. Es war im Dezember und wir haben gemeinsam einen Weihnachtsbaum für die Vögel im Garten geschmückt …
Achtung: Jetzt kommt eine komische Frage! Warum steht in manchen Biografien, Sie seien Burgenländer, während andere besonders betonen, dass Sie Südburgenländer sind. Und jetzt eine „richtige“, unkomische Frage: Was zieht Sie zurück ins Burgenland?
Heinz Janisch: Das Südburgenland war durch den Eisernen Vorhang lange ein etwas vergessener Winkel, dessen Schönheit erst langsam entdeckt wurde. Vielleicht halten Südburgenländer deshalb besonders zusammen. Meine Frau Cornelia ist Wienerin. Ich habe ihr vor 26 Jahren – beim Kennenlernen – gezeigt, wo ich aufgewachsen bin. Sie war so begeistert vom Burgenland, dass wir ein altes Bauernhaus gesucht haben. Im Laufe der Jahre haben wir es saniert und umgebaut. Ich arbeite jetzt im alten Kuhstall, der Holztisch war früher die Stalltür. Ich liebe die Ruhe, die Natur, die Freundlichkeit der Menschen. Und es werden viele Kindheitserinnerungen wach, wenn ich in den Dörfern und Feldern unterwegs bin.
Sie beschreiben Bücher als eine Art „Wundertüte“ – welche war Ihre erste Wundertüte und wer hat Sie Ihnen geschenkt? Was packen Sie in Ihre Wundertüten, was soll Kinder überraschen?
Heinz Janisch: Bücher stecken immer voll Überraschungen, man weiß nie, was sie alles erzählen werden. In meinen Wundertüten gab es Murmeln und Traubenzucker oder kleine Spielfiguren und ein Comicheft. Meine Tochter hat im Urlaub oft Wundertüten gemacht – mit kleinen Muscheln, bemalten Steinen und Glitzersand vom Strand.
In Ihrem Buch „Schneelöwe“, das Michael Roher illustrierte und für das Sie den Österreichischen Kinder- und Jugendliteraturpreis 2023 erhielten, laden Sie Ihre Leser:innen ein, darüber nachzusinnen, welches Tier in ihnen geweckt werden möchte. Welches Tier möchte in Ihnen geweckt werden?
Heinz Janisch: Ich bin abwechselnd eine neugierige Katze und dann wieder ein Faultier. Wir haben drei Katzen im Burgenland. Ich fühle mich ihnen durchaus verwandt.
Ihr umfangreiches Gesamtwerk ist wie ein Spaziergang durch das „Who-is-Who“ der österreichischen Kunstszene, Künstler:innen wie Linda Wolfsgruber, Helga Bansch oder Michael Roher haben Ihre Texte illustriert. Wer fordert hier wen zum Tanz auf – Sie als Autor die Illustrator:innen oder schlägt der Verlag eine Künstlerin, einen Künstler vor? Tanz deshalb, weil die Choreografie von Text und Bild in jedem Ihrer Bücher so gelungen ist.
Heinz Janisch: Danke! Ich bin ein Bilderbuch-sammler und komme mit einer Wunschliste zum Verlag: „Mit der oder dem würde ich gern etwas machen.“ Zuerst ist immer der Text da, dann beginnt die Suche nach der stimmigen Umsetzung.
Sie haben all die großen österreichischen Autor:innen wie Mira Lobe, Käthe Recheis, Renate Welsh, Wolf Harranth, Lene Mayer-Skumanz und natürlich Christine Nöstlinger kennengelernt. Wurden Sie von ihnen unterstützt? Wie darf man sich Ihre Begegnungen vorstellen?
Heinz Janisch: Ich habe mein Germanistik- und Publizistik-Studium mit Jobs verdient: Ich war Briefträger, Kellner oder Aufseher im Schloss Schönbrunn. Für einige Jahre war ich Redakteur bei der Kinderzeitung „Weite Welt“ in Mödling. Die Chefredakteurin war die bekannte Autorin Lene Mayer-Skumanz. Sie hat mich ermutigt, eigene Texte zu schreiben – und sie hat mich mitgenommen zu regelmäßigen Treffen mit ihren Kolleginnen und Kollegen. So habe ich Mira Lobe, Friedl Hofbauer, Christine Nöstlinger, Renate Welsh, Ernst A. Ekker, Wolf Harranth und viele andere kennengelernt. Man durfte Texte mitbringen, bekam eine durchaus strenge Kritik und dazu wertvolle Anregungen. Ich habe damals viel gelernt. Vor allem auch, dass man jeden Text ernst nehmen muss, auch wenn er noch so kurz ist.
Sie erzählen auch für die Kleinsten, etwa im Pappbilderbuch „Wo bin ich?“. Hier lassen Sie den kleinen Eisbären die Welt erobern, erste Schritte in die Welt hinaus setzen. Und zack! Schon wieder geht es ums Wachsen beim Gehen wie ist das Wachsen im Bleiben?
Heinz Janisch: Das Wachsen geht immer weiter – im Sitzen und im Bleiben. Und immer sind wir mittendrin, in der Mitte der Welt. Und alle Richtungen stehen uns offen.
Wir sitzen hier in Ihrem Büro in der Mühlgasse in Wien, Sie sind auch viel auf Lesereise(n): Wie und wo schreiben Sie? Wie geht die Reise vom ersten Gedanken zum ersten Wort, Satz zum Buch? Vielleicht haben Sie ein konkretes Beispiel.
Heinz Janisch: In meinem Arbeitszimmer wird viel abgetippt und bearbeitet. Das Schreiben selbst passiert in kleinen Notizbüchern, die ich immer bei mir habe. Ohne Heft und Schreibstift fühle ich mich nackt. Da genügt oft eine kleine Beobachtung beim Gehen. Ein Bub sitzt auf einem Baum. Ich setze mich ins Gras und notiere: „Ich bin der König der Bäume/ Ich bin der König der Träume/ Wenn ich nur jetzt/ den Bus nicht versäume.“ Ist mir manchmal passiert. Ich war auch gern auf Bäumen. Beobachtung trifft Erinnerung.
Ihre Wohnung ist gemütlich, der Kaffee ist wunderbar stark, ich bin gern hier: Woher nehmen Sie Ihre Kraft und Zuversicht, die man in Ihren Texten spürt, und Ihre Menschenliebe, Ihre Gastfreundschaft, die ich hier gerade genieße?
Heinz Janisch: Ich habe als Kind Liebe und Geborgenheit erlebt, bei den Eltern und Großeltern, den Nachbarn und Freunden, das gibt einen guten Unterboden, der hält. Wenn man sein „Ich“ gut spürt, dann ist der Schritt zum „Du“ und zum „Wir“ leichter.
2024 haben Sie die Hans-Christian-Andersen-Medaille für Ihr Lebenswerk erhalten. Herzliche Gratulation dazu. Welche Buch-ideen bzw. -projekte wollen Sie noch auf die Reise schicken?
Heinz Janisch: Der Andersen-Preis freut mich zutiefst. Man will ja gesehen werden mit dem, was man tut. Das gibt Rückenwind für neue Projekte. Ein Theaterstück für Erwachsene ist eben entstanden: „Der hölzerne Reifen. Die späte Heimkehr des Herrn Glück“, die wahre Geschichte eines Mannes, der nach vielen Jahren in das Dorf seiner Kindheit zurückkommt. Premiere ist am 11. September in der Synagoge Kobersdorf. Mit Michael Roher kommt ein schönes Projekt: „Das Buch der Anfänge“ – 16 Bilder und 17 Sätze laden zum Weiterdenken und Weitererzählen ein. Und es kommt ein neuer Lyrikband für Kinder: „Ich freue mich furchtbar sehr“, mit wunderbaren Illustrationen von Linda Wolfsgruber. Die Reise geht weiter …