
Welt-verträglich unterwegs
Nachhaltig oder verträglich reisen bedeutet viel mehr, als im Öko-Hotel zu schlafen. Unsere Autorin macht sich auf den gedanklichen Weg, um auch die emotionale und soziale Verträglichkeit des Weltenbummelns zu erkunden.
von Maria Kapeller
Neapel. Heiß. Laut. Menschenmassen drängen sich durch die Altstadt. Ich hocke auf einer Stufe. Gerade will ich in ein Pizzastück beißen, das vor Käse trieft. Ich öffne den Mund – und erschrecke. Vor mir bäumt sich ein Schatten auf, ein Mensch schaut mich an. Der Mann ist groß gewachsen, hat eine dunkle Hautfarbe und dunkelbraune Augen. Sie fixieren mich. Er fragt mich auf Englisch um Geld. Mir scheint, sein Blick ist flehend. Greife ich zur Geldtasche oder starre ich ihn regungslos an? Im Nachhinein erinnere ich mich nicht. Kurz steht alles still. „Sorry, I don’t want to do this“, sagt er und verschwindet. Ich bleibe zurück. Perplex, nachdenklich, berührt. Und ich schäme mich – für mein Erstarren und dafür, dass ich diesem Menschen nichts entgegnen konnte, was ihm weitergeholfen hätte.
Diese Situation ist eine jener Reiseerinnerungen, die sich tief in mir eingegraben haben. Immer wieder denke ich auch an andere Begegnungen zurück. Etwa an die Pensionistin in Bulgarien, wir tranken in einem Gastgarten spontan einen Kaffee. Ihr kullerten stille Tränen von der Wange, als ich sie nach ihrer Familie fragte. Ihre Tochter war gestorben, mit Anfang 30. Oder an Bridget, eine ältere Frau in Irland. Sie lud mich in ihr Haus ein und zeigte mir alte Fotos einer Österreich-Reise, ihre Katzen, ihren Garten und eine abgesteckte Gefriertruhe, vollgestopft mit Selbstgestricktem. „Ich bin viel allein und dann stricke ich“, erzählte sie. Ihre Einsamkeit füllte den kleinen Raum.
Je mehr Reisejahre vergehen, umso mehr empfinde ich Erlebnisse wie diese als eine der nachhaltigsten Formen des Reisens. Weil sie eine intensive Begegnung zwischen zwei Menschen ermöglichen, auch wenn nur für wenige Augenblicke. Und weil sie in mir etwas in Gang setzen, das lange nachhallt: eine Art unaufdringliche Weiterentwicklung, die mich begleitet und formt. Ich erkläre mir das so: Beim Reisen sind wir Menschen vom Alltag entbunden, das macht uns frei und wir können loslassen. Zugleich ist unser inneres System wachsamer und aufmerksamer als sonst, da wir uns in unvertraute Situationen begeben. Genau das macht das Unterwegssein so einzigartig – wir sind entspannter, offener und gelöster als sonst. Das ermöglicht es, uns anderswo von Eindrücken und Begegnungen berühren zu lassen. Tief drinnen, da, wo wir in der Hektik des Alltags und Funktionierens oft gar nicht berührbar sind.
Beim Reisen bringen wir uns selber mit und lassen uns auf die Welt ein. Es ist keine einfache Tugend, das, was das Urlaubsgefühl stört, nicht ausblenden oder ignorieren zu wollen. Der Mann, dessen Schatten sich in Neapel über mir auftat, scheint fehl am Platz zwischen all den bunt gekleideten Tourist:innen, herausgeputzten Geschäften, hübschen Restaurants, Kirchen und Museen. Aber: Er ist ebenso Teil der bereisten Welt. Man wird dem Reisen nicht gerecht, nährt man sich nur an der Postkartenidylle, der emotional leicht verdaulichen Kost. Nicht wegzuschauen, das nenne ich emotional verträglich zu reisen. Diese Haltung ist eng mit sozialer Verträglichkeit verknüpft, was bedeutet: sich für die Verhältnisse vor Ort zu interessieren, im Hotel genügend Trinkgeld zu geben oder andere mit Würde zu behandeln. Das eine Mal in Neapel ist es mir nicht gelungen.
Die ökologische Komponente, die zumeist viel prominenter beschrieben wird, gibt es freilich auch. Hier nützt die Auseinandersetzung mit Fakten. Etwa, dass die An- und Abreise den größten Teil der Emissionen einer Reise ausmachen. Folglich tut man schon richtig viel, wenn man statt in den Flieger in den Zug oder Bus steigt. Wo man nächtigt, was man vor Ort isst und unternimmt, beeinflusst den ökologischen Fußabdruck einer Reise auch, aber weniger. Auch hier hilft Pragmatismus: Beim Urlaub am See oder Meer kommt man ohne Pool aus (Hotels haben einen enorm hohen Wasserverbrauch), in kleinen Familienrestaurants zu essen, ist nachhaltiger als in internationalen Restaurantketten (die Nahrungsmittel oft importieren) und Mitbringsel sind im Idealfall lokales Kunsthandwerk statt Kitsch aus China (der überhaupt gar nichts mit dem bereisten Ort zu tun hat).
Verträgliches Reisen hat viele Facetten, die es zu erkunden lohnt. Als Orientierung hilft es, sich bei der Reiseplanung an den eigenen Werten, Bedürfnissen und am individuellen Budget entlangzuhangeln, die eigene Haltung einzubringen, offen für Unvorhersehbares zu sein und sich als fühlender Mensch ins Geschehen einzulassen. Für mich heißt nachhaltiges Unterwegssein, mich mit folgender Frage im Gepäck auf den Weg zu machen: Was berührt mich am meisten – und richtet zugleich möglichst wenig Schaden für andere Menschen und die Umwelt an?
In 7 Schritten verträglicher reisen
- Günstige Flugangebote oder Social-Media-Trends verführen oft dazu, sich beim Urlaub an einer Destination auszurichten. Orientieren Sie sich lieber an Ihren Bedürfnissen: Was brauche ich im Moment? Ruhe oder Trubel? Bewegung oder Faulenzen? Das zu machen, was einem wirklich guttut, fördert den Erholungswert.
- Planen Sie die nächste Reise ganz konkret möglichst umweltverträglich. Wohin komme ich ohne Flugzeug – und wie? Mit der Bahn, dem Bus oder sogar mit dem Rad? Wie viel Zeit habe ich? Und wie viel davon will ich mit Unterwegssein verbringen? Das gibt einen praktikablen Rahmen vor.
- Wo übernachten? Bevorzugen Sie familiäre Unterkünfte möglichst ohne Pool und große Gartenanlage, dafür mit lokaler Küche. So bleibt im Vergleich zu großen Hotelanlagen die Wertschöpfung verstärkt vor Ort und Ressourcen werden geschont (weniger Wasserverbrauch, geringes Müllaufkommen, weniger Importware etc.).
- Schieben Sie die ersehnte Erholung nicht über Monate hinweg auf den zwei- oder dreiwöchigen Jahresurlaub. So viel Anspannung und Stress kann er nicht kompensieren. Sie haben mehr von häufigeren Mini-Auszeiten: bei Pausen im Alltag oder bei kürzeren Reisen in die nahe Umgebung.
- Reisen ist ein Privileg – man braucht den richtigen Pass, ausreichend Urlaubstage, das nötige Budget. Um sich einer verträglicheren Reisepraxis anzunähern, kann es hilfreich sein, sich das bewusst zu machen und für die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten dankbar zu sein.
- Die nachhaltigste Reise ist übrigens jene, die nicht gemacht wird. Für die Umwelt sowieso – manchmal vielleicht auch für einen selbst. Denn Reisen kann auch anstrengend und stressig sein.
- Es gibt auch Möglichkeiten, sich von zu Hause aus für einen verträglicheren Tourismus einzusetzen. Ein Beispiel: Wenn Sie auf eine Klimademo gehen oder eine Petition für mehr Fahrradwege unterzeichnen, setzen Sie sich für eine Mobilitätswende ein. Damit tragen Sie einen Teil zur Tourismustransformation bei, denn verträglicher Tourismus ist von grüner Mobilität abhängig.