Wo Winter ein böses Wort ist

 

Oft ist es nur ein Wort, das einen von der Welt abschneidet, obwohl man doch mittendrin daheim ist in dieser Welt. Und dann beschreibt dieses eine Wort doch auch gleich eine ganze Welt, eine Gefühlslage, eine Zustandsbeschreibung, und es kann auch eine Zumutung sein. Und wenn jemand dann so ein Wort ausspricht, breitet sich gleichsam eine bekannte Welt – oder halt das Gegenteil davon – vor einem aus. „Winter“, sagt Tessy Omoregbe.

 

von Bernhard Flieher

 

Wie Tessy Omoregbe „Winter“ sagt, klingt das wie ein Vorwurf, gegen den es keine Mittel gibt, wie ein Staunen, das niemals endet. Allein das Aussprechen des Wortes klingt, als fröstle und schüttle es Omoregbe. Sie spricht das Wort „Winter“ aus, wie man etwas sagt, dass man als pure Zumutung empfindet, der man aber nicht ausweichen kann.

Es ist ein regnerischer Jännertag, an dem Omoregbe das Wort sagt. Ein solch grauer, feuchter Tag ist, wie ihn schon jene nicht besonders mögen, die mit solchen Tagen aufgewachsen sind. Tessy Omoregbe wuchs weit von jedem Winter auf.

Benin City ist ihre Heimatstadt. Knapp hundert Kilometer sind es von dort bis zur Küste am Golf vom Guinea. Und rund 200 Kilometer sind es bis Lagos, Hauptstadt von Nigeria, dem Moloch, der mit etwa 15 Millionen Einwohner die drittgrößte Stadt Afrikas ist. Tropisch heiß ist es dort. Eine Sonne, unter der nichts kalt wird. „Jetzt bin ich schon lange da. Aber der Winter, daran kann ich mich nicht gewöhnen“, sagt sie. Während des Gesprächs in der schön gewärmten Apropos-Redaktion zieht sie ihren Daunenmantel nicht aus. Den dicken Schal schiebt sie nur selten aus dem Gesicht. Und sie zeigt die dicken Schuhe, die aber meistens auch nichts helfen.

Sie redet leise. Sie denkt lange nach, bevor sie etwas sagt. Nicht nur, weil ihr manchmal die Worte fehlen. Sie wird nicht oft gefragt über ihr Leben. „Schwer ist die Kälte“, sagt sie. Schwerer ist es nur, für viele Dinge, erst recht für Gefühle, die richtigen Worte zu finden. Sie ist gerne da, in Österreich, in Salzburg, in der kleinen Wohnung in der Vorstadt, sagt sie. Aber kalt ist es halt oft hier, und es ist auch ein Land mit einer schweren Sprache.

Denn oft fehlt ihr das richtige Wort. Und wenn es fehlt, ist es eben nicht nur ein Wort, es ist ihr auch unangenehm. Wenn es nicht da ist das richtige Wort, wenn es einem nicht einfällt, wie man das üblicherweise so sagt, dann wird es nämlich kompliziert. Oder es entsteht eine Leere, ein Tasten durch einen Raum, in dem dann eine Unsicherheit entsteht. Dabei „geht mein Leben gut“, sagt sie. Aber das mit der deutschen Sprache, das geht halt „immer noch nicht so gut“. „Deutsch ist kompliziert“, sagt sie. Sie habe sich sehr bemüht. Sie will die Sprache können, weil sie hier lebt. „Wichtig“, sagt sie, aber schwer.

„Ich war nicht so gut in der Schule daheim“, sagt Tessy Omoregbe. Und so war es dann auch in Österreich nicht leicht, „ein bisschen Deutsch zu lernen“. Dass sie eher schüchtern ist, dass sie nicht einfach so drauf losplaudert, machte das Redenlernen nicht leichter. Da hilft es auch nichts aus einem Land zu kommen, in dem es etwa 500 Sprachen gibt, von den acht offizielle Amtssprachen sind. Edo ist eine davon. Es ist die Sprache, in der sie aufgewachsen ist. Und in der gesungen wird, in der Musik, die sie immer noch gerne hört. Es gibt noch eine neunte Amtssprache in Nigeria. Englisch. Das sei ein Vorteil, wenn man weg ist, sagt sie. Und so löst sich die Leere, die das Deutsch manchmal anrichtet, wenn sie erzählt, mit dem Englischen. Und dann, über den Umweg des Englischen, fallen ihr Wörter ein, von den sie gar nicht so genau weiß, „wie die zu mir kommen“.

Aus Nigeria, wo noch Geschwister und die Eltern leben, kam sie 2002 nach Österreich. Als sie aufbrach – über das Warum will sie lieber schweigen, „aber es war besser“ – war sie 21. Sie kam nach Graz. Dann übersiedelte sie nach Innsbruck. Bekam endlich eine Arbeitsgenehmigung, durfte endlich bleiben. Seit elf Jahren lebt sie in Salzburg. Sie arbeitet als Zimmermädchen. In einem Hotel. Normalerweise. Jetzt nicht. Das Virus hat sie arbeitslos gemacht, weil das Virus den Tourismus in der Stadt, in der so viele von Touristen leben, lahm gelegt hat. „Schwer“, sagt sie. Und sie sagt es nicht nur, weil sie ohne Arbeit ist, sondern, weil sie „die Arbeit mag“.

Weil es die Arbeit seit zwei Jahren nicht gibt, steht sie in Eugendorf beim Europark mit den Zeitungen. Da sieht sie die Leute auch zum Einkaufen gehen, denen auch an den grauen, feuchten oder schneeigen Tage die Temperatur nichts ausmacht. Und dann wundert sie sich, nicht weil die Leute freundlich sind, sondern weil sie nicht versteht, wie den Leuten die Kälte so egal sein kann. Ihrem Sohn ist die Kälte auch egal. Er ist neun Jahre alt, ein „braver Schüler“, sagt sie, und „my baby“, wie sie sagt. Und wie sie es sagt, ist er das Zentrum, das Wichtigste und auch ihr Lehrer. „Weil er kann perfekt sprechen“ sagt sie. „Aber nicht von mir gelernt“, sagt sie schnell dazu. Und es sei schon gut, dass sie Zeitungen verkauft, weil sie da nicht reden muss.

In Eugendorf steht sie mit den Zeitungen und hofft auf den Frühling. Und noch mehr hofft sie auf den Sommer, auf die Sonne, auf die Wärme. Mit dem Bus fährt sie aus der Stadt hinaus nach Eugendorf. Mit dem Bus kam sie auch zum Gespräch. Es ist keine lange Busfahrt bis zum Treffpunkt für unser Gespräch. Nur ein paar Minuten. Aber der Bus fährt lange genug, dass ihr kalt wurde. Vor allem an den Füßen. „Das passiert immer so schnell“, sagt sie. Und sie sagt noch einmal, dass sie sich daran nie gewöhnen wird, auch wenn es ihr gefällt in Österreich. „Das Gewöhnen geht nicht einfach“, sagt sie. Allein das Denken an das kalte Draußen  lässt sie frieren und „schon bei der Wohnungstür“ sei sie dann da, die Kälte. Und dann lächelt sie, während sie noch einmal ihre Arme fest um den Oberkörper schlingt. „Aber es geht uns gut“, sagt sie. Und sie sagt, dass es bald besser werden wird. Denn es wird der Frühling kommen. „Darauf freue ich mich“, sagt sie. Wegen der Füße. Und auch weil es das Virus dann wieder schwer hat, und weil dann die Gäste wiederkommen werden. „Hoffentlich“, sagt sie. Und weil sie hofft, dann, wenn die Sonne sie wärmt, wieder Zimmermädchen sein zu können.