„Ruhe bedeutet für mich, dass keiner meine Aufmerksamkeit verlangt“
Schriftstellerin Doris Knecht hat ein Buch über die Ruhe geschrieben – und kommt darin zu spannenden, teils widersprüchlichen Erkenntnissen: Ruhe ist individuell, politisch und oft gar nicht leise. Im Gespräch mit Monika Pink erzählt sie, warum sie Ruhe nicht mit Weihnachten verbindet, weshalb sie Lärm manchmal beruhigend findet – und wieso „Psst“ für sie ein Machtwort ist.
Titelinterview mit Doris Knecht
von Monika Pink
Weihnachten als ruhige Zeit der Einkehr – ist das für Sie nachvollziehbar?
Doris Knecht: Weihnachten verbinde ich nicht mit Ruhe. Ich glaube, es ist ein Fehler, das zu tun. Wer das erwartet, wird enttäuscht. Weihnachten ist für mich Rummel und Aufregung und volle Läden und Familie und laut und viele Gespräche. Also mit Stille hat das gar nichts zu tun. Vielleicht die fünf Minuten, wenn ich mit meinen Eltern „Stille Nacht“ singe, aber sonst ist es zu Weihnachten nie still bei mir.
Und trotzdem gibt es diese vielzitierte und besungene Redewendung über die „stille Zeit“…
Assoziiert noch irgendjemand mit Weihnachten Stille? Nie ist es schwieriger, Stille zu finden, als im Dezember, finde ich. Der stillste Monat ist eigentlich der Jänner. Auch Ostern ist viel stiller, da ist nicht so ein Krach überall.
In Ihrem Buch „Gedankenspiele über die Ruhe“ haben Sie sich literarisch mit der Ruhe beschäftigt – wie kam es dazu?
Ich habe vor zwei Jahren in einer Kolumne für die Abschaffung der Ruheabteile in den ÖBB plädiert, wo ich übrigens auf viel Widerstand gestoßen bin. Die Verlegerin vom Literaturverlag Droschl, der schon einige „Gedankenspiele“-Bücher gemacht hat, hatte die Kolumne gelesen und mich gefragt, ob ich etwas zum Thema Ruhe schreiben möchte. Das hat mich interessiert.
Was ist aus Ihrer Sicht problematisch an den Ruheabteilen im Zug?
Man kann ein Ruhegefühl nicht verallgemeinern. Ruhe bedeutet für jede etwas anderes: in einem Zugabteil oder in der Straßenbahn oder vielleicht auf der Straße. Eigentlich glaube ich, dass man sich heutzutage in dieser Welt keine Ruhe mehr erwarten sollte. Also man kann sie erwarten, aber man wird sehr enttäuscht werden und in ständigem Ärger leben, wenn man von seiner Umgebung erwartet, dass das eigene Ruhebedürfnis erfüllt wird. Sowohl das Bedürfnis nach Ruhe als auch das Empfinden, was Ruhe ist, ist einfach sehr individuell.
Und Ihre Schlussfolgerung ist, am besten auf diese verordneten Ruhezonen zu verzichten?
Ich habe das Gefühl, dass es irrsinnig anstrengend ist, einen „Ruhe-Standard“ einzufordern. Man reibt sich damit auf und tut sich selbst weh, weil sich viel zu viele Leute nicht daran halten. Wenn man einmal angefangen hat, gegen einen Unruhepol in seiner Umgebung zu kämpfen, kann es ein Lebensthema werden. Man kennt das ja von Anrainergeschichten. Insofern versuche ich, soweit es möglich ist, mir meinen stillen Raum selbst zu machen.
Wie gelingt es Ihnen, sich diese Ruhe zu schaffen?
Ich bin da sehr privilegiert, das heißt: Wann immer ich meine Ruhe haben möchte, finde ich sie irgendwie. Das ist natürlich nicht für alle gleichermaßen möglich, viele Leute leben in Lebensumständen, in denen sie sich das überhaupt nicht aussuchen können. Das ist mit Sicherheit sehr anstrengend.
War das schon immer so?
Es war nicht immer so, denn es kommt schon noch eine Sache dazu: Wenn man Kinder hat, ist man für viele Jahre mehr oder weniger ausgeschlossen davon. Ruhe bedeutet für mich, dass keiner meine Aufmerksamkeit verlangt. Lärm stört mich nicht, sondern das immer Aufmerksam-sein-Müssen und Jemandem-zuhören-Müssen, der jetzt gerade was zu sagen hat.
Wie konnten Sie da Ruhe zum Schreiben finden?
Ich hatte oft so fette rote Kopfhörer auf, in denen mitunter gar nichts lief. Aber das hieß einfach: Mutter arbeitet und möchte in Ruhe gelassen werden. Natürlich wurde das auch nicht respektiert, aber zumindest ein bisschen mehr, als wenn ich keine aufhatte. Ich habe immer gedacht, ich kann besser arbeiten, wenn ich Ruhe habe. Und irgendwann habe ich mir eine winzige Schreib-Wohnung zugelegt und ich habe dort keinen Satz mehr geschrieben als in dieser Unruhe in der Familie daheim.
Was war Ihre Erkenntnis daraus?
Dass ich nicht unbedingt Ruhe zum Schreiben brauche. Ich brauche eine Deadline. Und wenn ich diese Deadline habe, tue ich mir sehr leicht, mit dem Kopfhörer überall einen Ort der Ruhe zu schaffen – egal ob im Zug oder im Gasthaus oder daheim vorm Fernseher. Was ich aber erkannt habe: Bei mir ist eher Unordentlichkeit das Problem, also Unruhe in einem Raum oder Anforderungen, die ich nicht gut kanalisieren kann. Ich bin selbst kein besonders ordentlicher Mensch, aber in einem aufgeräumten Raum kann ich besser arbeiten.
Interessant, dass Sie Lärm nicht als störend empfinden …
Die lautesten Momente sind bei mir oft die stillsten. Ich kann mich zum Beispiel bei lauter Musik unheimlich gut beruhigen. Als ich jung war, habe ich ganz viel Zeit auf Konzerten verbracht und da konnte ich richtig gut denken. Mein damaliger Freund hat öfter als DJ aufgelegt und ich erinnere mich, dass ich nach der Arbeit mit meinem Text in das Lokal gegangen bin, in dem er auflegte, und bei dieser lauten Musik sehr konzentriert schreiben konnte. Es kommt bei mir nicht immer auf die äußere Ruhe an, auch wenn sie jetzt immer wichtiger wird.
Die Erzählerin in Ihrem Buch hat ein überdurchschnittliches Ruhebedürfnis und Sie schreiben: „Nicht viele Leute halten so viel Ruhe aus, wie diese Person zum Existieren braucht.“
Das eigene Ruhebedürfnis ist etwas total Individuelles. Introvertierte Menschen können nur auftanken, wenn sie Ruhe haben. Und es gibt andere Leute, die nur auftanken können, wenn sie unter Leute gehen. Ich kenne jemanden, der in Wirklichkeit auch sehr introvertiert ist, sich aber aufgrund seiner familiären Situation nicht zurückziehen kann. Er schafft sich seine kleinen, inneren Beruhigungszonen, indem er Sachen liest, die auf dem Tisch sind. Jedes Etikett, alles. Und in der Sekunde, wo er anfängt zu lesen, ist er in seinem Raum und auch nicht mehr ansprechbar. Wenn er etwas liest, kann er sich zurückziehen.
Mit „so viel Ruhe nicht aushalten“ – ist da auch Angst vor der Stille gemeint?
Ich glaube tatsächlich, dass das Bedürfnis, ständig etwas zu hören, Musik oder Stimmen, auch aus einer Angst heraus entsteht, dass man in der Stille versinkt und ertrinkt. Wenn das Radio läuft, ist da eine Stimme und das Gefühl, dass in dem Raum noch was anderes ist als man selbst. Das gibt einem schon ein Gefühl von Geborgenheit. Vielleicht ist es aber weniger die Angst vor der Stille als die Angst, allein zu sein. Das ist, glaube ich, das größte Problem: Stille ist oft damit verbunden, dass man allein ist.
Sie schreiben: Ruhe bedeutet Ruhe geben können – auch sich selbst gegenüber. Wie ist das gemeint?
Ich kenne Leute, die schon von Geburt an in sich ruhend sind. Menschen kommen wirklich so unterschiedlich auf die Welt, das weiß man gut, wenn man Zwillinge hat. Ich bewundere diese Menschen, die mit so einer inneren Ruhe durch die Welt gehen, und beneide sie auch darum. Ja, weil es natürlich auch sehr viel angenehmer ist, als wenn man mit so einer ständigen Unruhe unterwegs ist.
Ebenso haben Sie formuliert, dass man Ruhe in der Wiederholung und im Vertrauten finden kann.
Ja, ich kenne das von mir und von anderen introvertierten Leuten, dass sie gern immer die gleichen Sachen haben. Also sie essen gern immer das Gleiche, hören das Gleiche. Wenn ich an fremde Orte komme, dann habe ich alte, vertraute Songs im Kopfhörer, die ich gut kenne und weiß, was wann kommt. Das gibt mir so ein sicheres Gefühl, dass man die Fremde besser aushält, wenn man quasi mit seinem eigenen, vertrauten Song-Raum dorthin geht.
Was fanden Sie spannend an der Auseinandersetzung mit der Ruhe?
In diesem Prozess war wirklich sehr interessant zu überlegen: Was ist denn überhaupt Ruhe? Man kann Ruhe darüber definieren, was Krach ist und was nicht. Und da fand ich besonders spannend, darüber zu reflektieren, was für wen Lärm ist und wie die Gesellschaft mit verschiedenen Arten von Lärm umgeht – zum Beispiel mit Kinderlärm versus Motorenlärm. Oder dass Leute in dichte, belebte Gegenden ziehen und dann trotzdem ihr eigenes Ruhebedürfnis durchsetzen wollen.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie „Psst“ hören?
Ich mag das überhaupt nicht. Wenn jemand Psst zu mir sagt, fühle ich mich bevormundet. Das dürfen meistens nur mächtigere Leute zum Ohnmächtigen sagen. Man fühlt sich meistens der Person, die einem befiehlt, ruhig zu sein, untergeordnet. Wenn mir jemand sagt, ich soll ruhig sein, beunruhigt mich das gleich sehr. Also ich meine, wer darf mir sagen, dass ich ruhig sein soll? Oder zu laut bin?
Andere ruhigstellen zu wollen, das gibt es auch in politischer Hinsicht, wie Sie im Buch aufgreifen.
Dieses Fordern, dass jemand anderer ruhig sein soll, ist eine sehr übergriffige, extrem politische Sache: Man erwartet von einer Gruppe, dass sie still ist und ihre Ansprüche oder ihre Wünsche leise oder gar nicht formuliert. Das ist natürlich ein Machtinstrument, von jemandem Ruhe zu fordern. Besonders als Frauen haben wir erleben müssen, dass man von uns erwartet, dass wir leise und still sind und nicht aufmucken oder aufbegehren. Und dieses „Sei ruhig“ ist natürlich ein totales Kleinmachen, Stillmachen, Ausschalten von berechtigten Anliegen.
Aber da sind wir ja mitten im Dilemma: Wir sehnen uns nach Ruhe, gleichzeitig stellen Sie hinsichtlich dieses lauten Aufbegehrens fest: Sobald die eine Seite sich beruhigt, bewegt sich die andere nicht mehr.
Ich bin schon der Meinung, dass man vor allem im feministischen Bereich weiterhin stark Unruhe stiften muss. Es gibt einfach keinen Grund, ruhig zu sein. Wir haben keinen Anlass, uns zufrieden zurückzulehnen, weil wir Frauen einfach immer noch so vielen Benachteiligungen ausgesetzt sind. Solange es die gibt, wird es keine Ruhe geben. Auch wenn es anstrengend ist, ständig unruhig zu sein.
Also ist es wichtiger, laut als leise zu sein und diese Anstrengung auf sich zu nehmen?
Das ist, glaube ich, individuell. Man kann nicht von jedem verlangen, laut zu sein. Und es gibt auch Methoden, sich ohne Lärm durchzusetzen. Ich finde es interessant, wie die amerikanische Autorin und Motivationsexpertin Mel Robbins argumentiert. Sie sagt, man kann sich auch Stärke daraus holen, indem man die anderen machen lässt und sich das von einer gesunden Distanz anschaut und sagt: „Let them“. Das ist zwar eine individuelle Art, mit Problemen umzugehen, und keine politische. Aber dadurch kann man eine souveräne Position einnehmen und muss sich nicht von all den Sachen, die andere machen, überrennen lassen.
Kann Ihrer Meinung nach zu viel Ruhe auch als „faul“ oder als „unproduktiv“ gesehen werden?
Gerade für mich als Schriftstellerin ist es total wichtig für meine Kreativität, dass ich auch mal einfach nur in die Luft schaue und leer werde – diese Freiheit macht einen durchaus verdächtig bei der arbeitenden Bevölkerung. Die meisten meiner Freundinnen haben so „richtige“ Berufe im Gesundheits- oder Sozialbereich, und das ist natürlich eine andere Art von Arbeit, als zu Hause zu sitzen und in Ruhe nachzudenken.
Aber wenn man dann ein Buch rausbringt, dann zeigt sich ja, dass man doch schon was getan hat, auch wenn es so aussah, als wäre man nur mit dem Hund spazieren gewesen.
Möchten Sie mit Büchern wie „Gedankenspiele über die Ruhe“ zum Nachdenken oder im Gegenteil zum Reden über Ruhe anregen?
Also da mache ich keine Vorgaben. Ich bin immer so, dass ich mir denke, die Leute lesen aus unterschiedlichsten Gründen oder wissen oft gar nicht, warum sie was lesen, oder lesen zufällig etwas. Schön ist es immer, wenn es auf welche Weise auch immer einen eigenen Gedanken oder eine Erinnerung bei der Leserin auslöst. Oder man sich mit irgendwelchen Sachen identifizieren kann und sich abgeholt fühlt. Aber so richtig steuern kann man das nicht.
Was waren besondere Momente der Stille für Sie?
Ich denke da an die Pandemie. Da war es viel stiller als sonst. Das Leben in der Stadt war merkwürdig still, beunruhigend still. Man hat gespürt, dass das normale Leben nicht stattfindet.
Wenn Sie an die kommenden Feiertage und den Jahreswechsel denken: Wird es da Ruhe geben? Viele Traditionen sind ja auch mit Krach wie Böllerschießen verbunden.
Eigentlich interessant – also ob man sich beweisen müsste, dass man da ist. Dass man in dieser riesigen Welt einen Lärm, einen Nachhall erzeugen kann. Also eines kann ich sagen: Silvester hat sich verändert, seit ich einen Hund habe. Partys gibt es keine mehr, sondern es gibt nur noch Rückzug in das stillste Eck, das man finden kann. Dem Hund CBD-Tropfen verabreichen und ihm die Badewanne auspolstern, weil das der Ort ist, wo er sich dann am sichersten fühlt.
Und der Familientrubel rund um Weihnachten?
Solange man aktive Mutter ist, kann man einfach nicht oft allein sein. Und viele Leute haben eher ein Problem damit, wenn die Kinder ausziehen. Vielen Eltern ist es dann zu still. Aber ich muss sagen, ich habe das als solche Freiheit empfunden. Sosehr ich meine Kinder liebe und mich immer freue, wenn sie da sind. Aber es ist so schön, dass sie jetzt auch wieder gehen. Ja, und dass man dann wirklich seine Gedanken wieder in Ruhe zu Ende denken kann. Aber auf den Trubel zu Weihnachten mit der ganzen großen Familie freue ich mich sehr.