Parallel-Klasse


von Günther Marchner

Als ich im Frühstücksgarten des Hotel Auersperg meinen Gesprächstermin mit Paul Innocent wahrnehme, bemerke ich, dass meine vorbereiteten Fragen zwar logisch erscheinen, aber in diesem Rahmen so nicht funktionieren. Vielleicht hat er aus Höflichkeit zugesagt – wir machen ja eine kleine Story mit dir! – und sich verpflichtet gefühlt.

Paul Innocent stammt aus Nigeria. Er erzählt mir, dass er vor 16 Jahren nach Italien gekommen ist. Die Familie legte damals Geld zusammen und zahlte ihm ein Ticket nach Europa. Inzwischen verfügt er über einen dauerhaften italienischen Aufenthaltstitel. Sein ursprünglicher Traum, in Nigeria zur Marine zu kommen, war nicht in Erfüllung gegangen. Er wollte seinem Land dienen, so erzählt er mir. Aber um das zu schaffen, braucht man gute Beziehungen. Aber die haben ebenso gefehlt wie das Interesse seines Landes an seinen Diensten.

Als ich Paul Innocent nach dem Unterschied zwischen Nigeria und Ländern wie Italien und Österreich frage, lacht er. Der Unterschied sei sehr groß. So groß, dass er gar nicht versucht, ihn zu beschreiben, offenbar fehlen ihm geeignete Worte, Begriffe und Maßstäbe für einen Vergleich. Nur eines scheint für ihn sicher zu sein: In Nigeria – einem reichen, von einer korrupten Oligarchie geführten Land, geprägt von hoher sozialer Ungleichheit, so meine Vorstellung, mit welcher ich der Komplexität dieses Landes sicher nicht gerecht werde – hat er ohne gute Kontakte und Beziehungen keine Chancen. Da sieht er in Europa andere Möglichkeiten. Das macht für ihn einen entscheidenden Unterschied.
Paul Innocent, seit vielen Jahren in der Metropole Milano lebend, hat es geschafft, sich in Italien eine, wenn auch prekäre Existenz aufzubauen. Er ist verheiratet und Vater einer zweijährigen Tochter. Seine Frau hat er in Italien kennengelernt. Seit er dort lebt, zählen kurzfristige Dienstleistungstätigkeiten und Gelegenheitsarbeiten zu seiner Einkommensbasis, sei es in Restaurants, in einem Kinozentrum oder für Paket-Dienste. Einmal schaffte er es, ein Jahr lang in einem Hospital zu arbeiten. Derzeit sei es schwer, so Paul Innocent, in Italien Arbeit zu finden. Deshalb kommt er regelmäßig nach Salzburg. Und er erhielt die Gelegenheit Strassenzeitungen zu verkaufen.
Meine Frage nach seinen persönlichen Erfahrungen in Europa beantwortet er vorsichtig und sehr knapp, vielleicht auch deshalb, weil es dazu ein Vertrauensverhältnis braucht, das innerhalb einer Stunde in der Regel nicht entsteht. Daher seine Aussage: Die Leute sind sehr freundlich zu mir! Bisher habe ich keinerlei Diskriminierung erfahren.

Ich mag das nicht glauben, trotz vieler freundlicher Leute in Milano und in Salzburg. Seine Aussage liegt zu sehr im Widerspruch von in Salzburg lebenden „coloured people“, die über alltägliche Diskriminierung in vielen Lebensbereichen berichten.
Paul Innocent repräsentiert eine Welt von Migrant*innen und Geflüchteten aus afrikanischen, asiatischen, teils auch südosteuropäischen Ländern, die hierzulande, in Europa, prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen unterliegen – weit unterhalb der Wahrnehmungsschwelle gewerkschaftlicher Vertretungen und weit unter gängigen sozial- und arbeitsrechtlichen Standards. Seine Realität lautet: Ich muss äußerst mobil und flexibel bleiben, um Arbeit zu finden und um zumindest ein minimales Einkommen zu erwirtschaften. Repräsentiert Paul Innocent nicht eine Gruppe, geht mir anschließend durch den Kopf, die in Österreich von der Bevölkerungsmehrheit gar nicht als Teil der Bevölkerung, sondern als nicht zugehörig, als fremd, sogar als bedrohlich empfunden wird?

Als ich, von meinem Kurzurlaub am idyllischen Kärntner Weißensee zurückkommend, noch einmal über die Sache nachdenke, geht mir das Gerede über Parallelgesellschaften durch den Kopf, so zum Beispiel auch von der derzeitigen Integrationsministerin. Natürlich gibt es abgeschottete, teilweise demokratiefeindliche Gruppen, wobei in erster Linie immer manche mus-limische Vereine gemeint werden. Aber trifft dies nicht auch auf Burschenschafter-Vereinigungen zu? Und gibt es nicht eine Vielzahl an Parallelgesellschaften? Zum Beispiel die abgeschottete und homogene Welt am schon erwähnten idyllischen Weissensee, einem Sinn-bild für nachhaltigen Tourismus und einem Magneten für umwelt- und gesundheitsbewusste, Kulinarik- und regionalbegeisterte Tourist*innen aus der österreichischen, deutschen und nord-italienischen Mittelschicht? Oder zum Beispiel auf jenen tendenziell geschlossene Bevölkerungsteil, der in der Stadt Salzburg jeden Sommer seine kulturelle Parallelwelt zelebriert?

Vielleicht wäre besser von einer „Klassengesellschaft“ zu sprechen, die uns aufgrund unserer sehr homogenen Vorstellung von Österreich so gar nicht in den Sinn kommt, um die soziale Realität korrekter zu beschreiben?
Unsere Gesellschaft weist einen wachsenden Anteil an „working poor“ und in prekären Verhältnissen lebenden Menschen auf. Ein erheblicher Anteil dieser Bevölkerungsgruppe sind Migrant*nnen aus sogenannten Drittstaaten, Geflüchtete, Menschen mit unklarem aufenthaltsrechtlichem Status. Eine Klasse, markiert durch ethnische und rassistische Zuschreibungen, strukturelle Diskriminierung, rechtlich-sozial prekäre Bedingungen sowie fehlende Zugänge und Teilhabemöglichkeiten bei Bildung, Arbeit sowie öffentlichen Gütern und Dienstleistungen.

Dies in einem Land, wo es für die wahlberechtigte Mehrheit offenbar nicht vorstellbar ist, die gesamte Wohnbevölkerung als Teil des Landes zu betrachten. In einem Land, wo eine Regierungspartei zwischen den „Unsrigen“, den eigentlichen Österreicher*innen, und den „Anderen“ unterscheidet. In einem Land, in dem eine wachsende Bevölkerungsgruppe von der politischen Teilhabe ausgeschlossen ist.
Eines Tages, so geht mir durch den Kopf, wird uns dieses eingeschränkte, durch Tourismus- und Heimatklischees verstaubte Österreichbild auf den Kopf fallen. Vor allem, wenn sich jener aus-gegrenzte und an den Rand gedrängte Teil der Bevölkerung andere Wege sucht, um Identifikati-on, Würde und Anerkennung zu finden.

Wie wird eine reiche, auch durch Migration und Flucht mitgeprägte mitteleuropäische Stadt, die sich regelmäßig zur Welthauptstadt der Kultur erklärt, in Zukunft damit anders umgehen? Bis es so weit ist, leben Paul Innocent und ich auf verschiedenen Planeten und tun uns mit dem gemeinsamen Gespräch schwer, obwohl wir am selben Tisch sitzen.