Langsamkeit hat auch Qualität

Interview mit Siegi Pichler

von Georg Wimmer

Siegi Pichler lebte eine 60-Stunden-Woche. Als Präsident der Salzburger Arbeiterkammer und Gewerkschaftsführer war er auf Leistung gepolt. Mit Mitte 70 entdeckt er die verschiedenen Seiten des Älterwerdens.

Lieber Siegi Pichler, wir möchten mit Ihnen über das Älterwerden sprechen …

Siegi Pichler: … das Älterwerden ist die einzige Möglichkeit, um lange zu leben. Das ist meine Devise. Das muss man aber erst verinnerlichen, das ist so ein Entwicklungsprozess. Als Junger denkt man ganz anders über das Altwerden und über das Altsein, als wenn man direkt betroffen ist.

Sie sind jetzt 73 Jahre alt. Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Entwicklungsprozess?
Siegi Pichler: Ich habe jetzt nicht meinen Frieden mit dem Älterwerden, so kann man das nicht sagen, aber ich akzeptiere alles, was damit zusammenhängt. Ich glaube, ich schaffe das Zusammenspiel zwischen Geist und Körper immer besser. Der Geist will ständig mehr, als der Körper in der Lage ist zu leisten. Du entdeckst, dass du noch so viel mehr vorhast, als eigentlich geht. Ich hätte erwartet, dass sich der Geist auf das reduziert, was möglich ist. Inzwischen glaube ich, dass das sogar schlecht wäre.

Der Körper sagt mir, wie alt ich wirklich bin, und der Geist hat Mühe, sich dem anzupassen?
Siegi Pichler: Und die Frage, die ich für mich noch immer nicht beantwortet habe, lautet: Soll ich das akzeptieren? Ich glaube, dass es gut ist, dass der Geist immer noch der Treiber ist und sagt: Das geht noch, das kannst du noch und das willst du noch. Wenn du sagst, jetzt bin ich 73 und das geht nicht mehr, dann probierst du es gar nicht. Und natürlich ist es völlig okay, wenn du mit dem Alter ein Ziel nicht schaffst.

Sie waren immer fleißig, zielstrebig, auch ehrgeizig. Das hat mit Ansprüchen an sich selbst zu tun, und die sind nicht einfach weg, wenn man in Pension geht. Inwiefern spielt Leistung für Sie noch eine Rolle?
Siegi Pichler: Leistung ist für mich nach wie vor wichtig. Das beste Beispiel ist jetzt die Tätigkeit, die ich bei der Volkshilfe übernommen habe. Weil eine meiner Thesen lautet: Stillstand ist Rückschritt. Im Alter trifft das noch mehr zu. Wenn du dich nicht bewegst und dich nicht fit hältst, merkst du den Rückschritt brutal.

Sie sind Präsident der Volkshilfe Salzburg. Der Verein steht hinter einer Organisation mit 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Siegi Pichler: Nach meinem Pensionsantritt habe ich mich ein paar Jahre zurückgenommen. Ich habe aber gemerkt, man braucht schon ein bisschen eine Herausforderung. Als ich ersucht wurde, die Volkshilfe zu führen, habe ich mir das angeschaut und bin draufgekommen, diese Organisation weiterzuentwickeln, das ist eine schöne Challenge.

Wie viele Stunden arbeiten Sie in der Woche?
Siegi Pichler: Im Schnitt sind es zwei, zweieinhalb Tage. Meine Frau sagt, das ist sehr viel. Für mich ist es okay. Mehr soll es nicht sein. Aber ich habe so das Gefühl, dass ich ein bisschen etwas zurückgeben kann. Ich war mein ganzes Leben auf der Butterseite.

Sie sind vor bald acht Jahren aus der Politik ausgeschieden. Wie hat sich Ihr persönlicher Blick auf Macht und Verantwortung verändert?
Siegi Pichler: Ich war als Interessenvertreter immer auf der Seite der Beschäftigten, und wer Arbeit hat, ist in der Regel nicht arm. Das ist jetzt in der Volkshilfe eine völlig neue Dimension. Kinderarmut, Altersarmut, es gibt einfach viel mehr Menschen, als man glaubt, die unverschuldet in Not sind. Da braucht es neue Lösungsansätze. Ich habe inzwischen auch gelernt, mich auf das zu konzentrieren, wo ich etwas verändern kann. Über die Dinge, die ich nicht verändern kann, rege ich mich nicht mehr auf. Das heißt: Ich rege mich schon auf, aber ich kriege mich rechtzeitig wieder ein.

So wie beim Golfen, das immer eine große Leidenschaft von Ihnen war?
Siegi Pichler: Ich habe über 30 Jahre Golf gespielt, da war ich einerseits in der Natur, andererseits war bei mir im Sport immer ein gewisser Anspruch dabei. Nur den Ball so hin und her schupfen, das war nie meins. Tennis, Fußball, Golf hat mir dann Spaß gemacht, wenn es um Leistung gegangen ist. Im Mai hatte ich eine Bandscheibenoperation, deswegen spiele ich zurzeit nicht.

Aber Sie werden wieder spielen, wenn Sie fit sind?
Siegi Pichler: Das wird sich zeigen, ob ich nach dieser Operation noch auf einem hohen Niveau spielen kann. Das weiß ich noch nicht. Vielleicht haue ich dann die Bälle einfach so zum Spaß raus. Eine körperliche Einschränkung ist jedenfalls nicht gleichbedeutend mit einem Verlust an Lebensqualität, wenn man sonst gesund ist. Ich habe schon eine andere Seite kennengelernt. Ich hatte einen schweren Zungenkrebs, wo mir der Arzt erst viel später gesagt hat, dass er mir nicht viele Chancen gegeben hätte.

Damals waren Sie 59 und haben gesagt: „In den Himmel komme ich nicht, und der Teufel mag mich noch nicht. Deswegen bleibe ich da.
Siegi Pichler: Das war so der lockere Spruch, so ein bisschen zum Aufheitern. Ich habe viele Momente gehabt, wo ich gedacht habe, jetzt sterbe ich. Weil ich habe ja Operation, Chemo und Bestrahlung gehabt. Ich habe wieder schlucken lernen müssen, da waren die Schmerzen, überall Eiter und die Schläuche, die aus mir rausgehangen sind. Ein paar Mal hatte ich das Gefühl: Das war es jetzt, aber eigentlich ist es eh wurscht, ich habe ein schönes Leben gehabt. Und dann habe ich wieder gedacht: Aber ich will nicht sterben. Heute weiß ich, das Sterben tut nicht weh, aber der Weg dorthin kann beschwerlich sein.

Und die Motivation zum Weiterleben steckt einfach in einem drinnen – oder woher ist die in Ihrem Fall gekommen?
Siegi Pichler: Die Motivation, das waren unsere Enkerl, die ich unbedingt aufwachsen sehen wollte. Das waren meine Familie und meine Frau, die mich da durchgetragen hat. Das muss ich so sagen. Und heute genieße ich genau das Zusammensein mit der Familie am meisten. Die Kinder mit ihren Partnern und die Enkel – wenn wir komplett sind, sind wir zu neunt beim Essen. Da könnte ich stundenlang so sitzen, aber die Jungen wollen dann wieder weg, so wie ich früher. Die Verlangsamung hat eine große Qualität, das habe ich jetzt gelernt.

Es heißt, im Alter kann man die Zeit mehr genießen. Es heißt aber auch, im Alter vergeht die Zeit viel schneller. Ist das ein Widerspruch?
Siegi Pichler: Diese Verlangsamung steigert das Bewusstsein und die Genussfähigkeit, ich glaube, das zieht sich durch alle Lebensbereiche. Ein Erdapfel war für mich früher halt ein Erdapfel, dabei kann das das köstlichste Essen sein, wenn man sich die Zeit nimmt.

Wie pflegen Sie Ihre Freundschaften?
Siegi Pichler: Früher habe ich im Schnitt 60 Stunden pro Woche gearbeitet, da habe ich gar nicht die Zeit gehabt, um Freundschaften zu pflegen. Jetzt gibt es drei, vier, fünf Personen, wo ich sagen kann, das sind Freundschaften. Die Erkenntnis, dass Freundschaften keine Selbstläufer sind, die kommt im Alter natürlich noch mehr.