„Ein ganz eigenes Gefühl“
Tinou Ponzer und Luan Pertl engagieren sich national und international für die Anliegen intergeschlechtlicher Menschen, unter anderem im Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich, kurz VIMÖ. Im Apropos-Interview erklären sie, was ihr Aktivismus mit Menschenrechten zu tun hat, was sie sich von der Gesellschaft wünschen und was das Besondere an ihrem im Frühjahr erschienenen Buch „Inter*Pride“ ist.
Titelinterview mit Tinou Ponzer und Luan Pertl
von Monika Pink-Rank
Was verbinden Sie mit dem Begriff „seelenverwandt“?
Tinou Ponzer (TP): Ich denke da unter anderem an eine Begebenheit, wo eine inter* Person zu mir gesagt hat: „Ah, das ist wie eine Seelenverwandtschaft!“ Das war im Rahmen einer größeren Konferenz mit Workshops und Selbsthilfetreffen, da haben sich viele inter* Menschen zum ersten Mal kennengelernt. Ähnliches erleben wir auch in unserer Peer-Beratung[1]: Ich glaube, da machen einige von uns die Erfahrung, dass es ein ganz eigenes Gefühl ist andere intergeschlechtliche Menschen kennen zu lernen.
Luan Pertl (LP): Ich finde den Begriff Seelenverwandtschaft persönlich etwas schwierig, weil es für mich so ein esoterischer Begriff ist. Aber ich kann mich erinnern, dass eine inter*-Person bei einem Community Event einmal gemeint hat: „In einen Raum voller inter* Menschen zu kommen ist auf der einen Seite überwältigend, auf der anderen Seite aber auch das Gefühl endlich zu Hause angekommen zu sein.“ Ich glaube, dieser Satz beschreibt schon auch viel.
TP: Gleichzeitig zeigt es, dass da ein Problem dahintersteckt. Wenn jemand sagt: „Ich fühle mich seelenverwandt mit dir“ bedeutet das, dass zu wenig Sensibilisierung, Wissen und Sprache da ist, damit diese Leute überhaupt einmal gesehen werden. Dass man so lange braucht, bis man andere inter* Menschen findet, ist ja nichts Positives. Und natürlich ist es dann überwältigend. Aber für mich ist da ein ganz starker Beigeschmack, dass der Weg dorthin eigentlich anders sein sollte. Es sollte viel selbstverständlicher sein zu wissen, was Inter* ist und dass es andere Menschen gibt, die ähnliche Erfahrungen haben.
Warum ist es für viele inter* Menschen ein Schlüsselerlebnis, andere intergeschlechtliche Menschen kennen zu lernen?
LP: Weil sie von klein an vermittelt bekommen: Es gibt niemand anderen wie dich, du bist eine Einzelperson, es sind nur ganz, ganz wenige so, wie du bist. Viele werden damit alleine gelassen und denken sich: Ich bin allein, ich rede mit niemandem darüber, ich weiß zum Teil gar nicht, was das heißt, was mir gesagt wird. Wenn ich dann das erste Mal andere sehe, mit ihnen darüber rede und vielleicht herausfinde: „Wow, zu dieser Person ist dasselbe gesagt worden!“, wenn man realisiert, wie sehr man auch fehlgeleitet und fehlinformiert wurde, dann ist das für viele ein einzigartiges Erlebnis.
TP: Viele Menschen können noch nicht verstehen, was es bedeutet, gewisse Erfahrungen aufgrund des eigenen Inter*-Seins zu machen. Wenn man dann mit einer Person redet, die das nachvollziehen kann und wo man nicht so viel erklären muss, kann das ein sehr starkes Gefühl sein von gesehen und verstanden werden.
Mit welchen Herausforderungen sehen sich intergeschlechtliche Menschen in der Gesellschaft konfrontiert?
TP: Variationen der Geschlechtsmerkmale sind sehr vielfältig und die Diagnosen ganz unterschiedlich. Eine Erfahrung, die aber sehr viele teilen, ist die, dass etwas in der Geschlechtsentwicklung auffällig wird und medizinisch zum Problem gemacht wird. Zusätzlich zur medizinischen Ebene kommt die soziale: Unsere Gesellschaft hat Geschlechtervielfalt nicht als etwas Positives, sondern etwas Krankhaftes, Nicht-Normales vermittelt bekommen. Es gibt ganz viele Bilder und Normvorstellungen, wie Frauen oder Männer zu sein haben. Wenn man merkt, dass man da nicht reinpasst, entsteht enormer Druck. Also die medizinische Problematisierung, keine Sprache dazu zu haben oder oft nicht richtig oder ganz aufgeklärt zu werden und immer nur die Normbilder zu bekommen, macht etwas Tiefgreifendes mit den Menschen.
LP: Wir brauchen ein Umdenken in der Gesellschaft, denn dieses Zweigeschlechter-System ist uns seit Jahrhunderten aufgedrückt worden, das gab es früher nicht! Im allgemeinen preußischen Landesrecht des 18. Jahrhunderts gab es einen eigenen Paragraphen für intergeschlechtliche Menschen, den sogenannten „Zwitterparagraphen[2]“. Er besagte, dass sich Eltern entscheiden können, wie sie ihr Kind erziehen, und mit der Volljährigkeit konnte die Person selbst nochmals über die Geschlechtszugehörigkeit entscheiden. Mit der Einführung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) ist das gestrichen worden, da gab es plötzlich nur mehr Männer, Frauen und „strittige Fälle“. Zu sehen, wie das konstruiert und uns dieses Zwei-Geschlechter-System einfach übergestülpt wurde, ist vollkommen crazy.
Sie haben die medizinische Ebene angesprochen, was ist da die Problematik?
TP: Zuerst einmal der Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen und ihre Pathologisierung. Oft werden nicht notwendige Veränderungen der Geschlechtsmerkmale operativ vorgenommen und Behandlungen durchgeführt, denen man selber gar nicht zugestimmt hat, wenn man ein Kind war, oder zu denen man gar nicht vollkommen aufgeklärt wurde.
LP: Für diese Praxis ist Österreich bereits 2015 vom UN Ausschuss für Folter gerügt worden, dass diese Behandlungen an intergeschlechtlichen Kindern unwürdig und menschenverachtend sind. Heute, sieben Jahre später, sind diese Operationen immer noch nicht verboten. Das sagt schon auch viel aus über ein Land – oder über die Lobby der Medizin. Mit den Operationen versucht man ja auch, inter* Menschen unsichtbar zu machen. Aber die können mir wegschneiden, was sie wollen, ich bin trotzdem inter*, an dem ändert sich nichts.
Sie sind beide im Verein VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich) aktiv – wie sieht Ihre Peer-Arbeit dort aus?
TP: Mit der Beratungsstelle VARGES haben wir einen Raum geschaffen, wo intergeschlechtliche Menschen zusammenkommen können, damit man nicht mehr diese Isolationserfahrung hat, die viele von uns haben und dass man reden, sich austauschen, klären und fragen kann. Das sind alles sehr essenzielle Themen bei uns. Der Peer-Austausch ist ein wichtiges Element von Inter*-Gruppen und Inter*-Organisationen und war oft der Beginn von Aktivismus. Wir haben eine Homepage, man kann uns anrufen oder digital in Kontakt treten.
LP: Wir beraten auch die Familien von intergeschlechtlichen Kindern, da sie mit dem Thema Variation der Geschlechtsmerkmale ebenso oft alleine gelassen werden. Zusätzlich sind wir Anlaufstelle für Organisationen, Fachleute und Unternehmen. Für sie machen wir Fortbildungen, Trainings und Vorträge bzw. sensibilisieren Fachkräfte vorrangig in Bereichen wie Gesundheit, Pädagogik, Verwaltung und Personalwesen.
Was sind in Bezug auf Organisationen und Unternehmen die wichtigsten Themen in Ihrer Tätigkeit?
LP: Einerseits geht es um ganz praktische Dinge zur Umsetzung alternativer Geschlechtseinträge wie zum Beispiel Formulare adaptieren, die IT anpassen, die Möglichkeit von Wahlnamen geben, solange eine Namensänderung nicht vollzogen werden kann. Auch, dass man eine Person nicht unfreiwillig outet oder geschlechtsneutrale Toiletten errichtet, sind Themen. Mir geht es aber vorrangig darum, dass Unternehmen erkennen, dass hinter all diesen Dingen Menschen stehen! Ich, die Person, die sich wahnsinnig darüber freut, wenn ich einen Wahlnamen habe und diesen in der Firma verwenden kann. Das tut etwas mit meiner Psyche, das tut etwas mit meiner Arbeitsleistung.
TP: Bei Geschlechtervielfalt gibt es viele Potenziale zu schöpfen! Leider sehen es manche Unternehmen als Minderheitenthema an, um das man sich nicht kümmern muss, obwohl es ja rechtliche Vorgaben gibt. Da muss man tatsächlich erst mit Klagen kommen, damit sie die grundsätzlichen Dinge erfüllen. Auch weil sie nicht wissen, was die Lebensrealitäten sind. Deswegen machen wir Leitfäden, um zu zeigen, worum es geht.
LP: Es geht auch um Empowerment und Sichtbarkeit: Die schwule und lesbische Community hat das schon zum Teil in Form von firmeninternen Netzwerken und Gruppen, aber Trans* und Inter* ist da oft noch total außen vor[3]. Darüber hinaus sollten Unternehmen auch darüber nachdenken, dass sie nicht nur Arbeitgeber*innen sind, sondern auch Kund*innen haben wollen. 1,7 Prozent ist jetzt nicht so wenig an Menschen, die vielleicht Kund*innen sein können – oder auch nicht.
Dazu gehört auch die Verwendung geschlechtersensibler Sprache. Warum glauben Sie gibt es so viele Menschen, die damit wenig anfangen können?
TP: Ich glaube, dass Widerstände oft deswegen vorhanden sind, weil Leute keinen Zugang zu gewissen Realitäten haben. Wenn sie es selber nicht durch eigene Erfahrungen oder ihr Umfeld mitbekommen, ist es halt sehr leicht Vorurteile oder eine Meinung zu haben, die man oft nicht hätte, wenn man verstehen würde, worum es geht. Für uns geht es um unsere Existenz! Wenn man ein bisschen nachvollziehen kann, was es bedeutet tatsächlich unsichtbar zu sein, dann geht man mit Sprache auch anders um.
Sie haben im Frühjahr ein Buch zu Intergeschlechtlichkeit mit herausgegeben. Was ist das Einzigartige daran und wieso heißt es Inter*Pride?
LP: Es gibt sehr viel englischsprachige, aber wenig deutschsprachige Literatur von inter* Menschen selber. Es wird viel über uns gesprochen und geschrieben, aber selten kommen wir selbst zu Wort. Das Einzigartige an unserem Buch ist, ist dass wir österreichische und internationale Inter*-Geschichte, Aktivismus-Bewegungen, wissenschaftliche Texte, Interviews und künstlerische Texte wie z.B. Gedichte miteinander verbunden haben. Irgendwann ist es dann so ein 400 Seiten Ding geworden – crazy und cool!
TP: Die Verwendung des Begriffs „Pride“ kommt aus der LGBTQ[4] Community, die ja auch gegen Normierung und Pathologisierung und die Ungleichbehandlung aufgrund von Geschlecht oder sexueller Orientierung kämpft. Man hat davor gelernt weniger wert zu sein, falsch zu sein, keine gleichen Rechte zu haben, sich schämen zu müssen. Diese Erfahrung machen intergeschlechtliche Menschen auch ganz stark. Und das sind alles diese Themen, wo Pride etwas entgegensetzen mag: Dass man sich organisiert, dass man gesehen wird, dass man andere finden kann, dass man stolz auf sich und seinen Körper sein kann.
Der Untertitel des Buches lautet: Perspektiven aus einer weltweiten Menschenrechtsbewegung. Inwiefern geht es bei Inter*-Anliegen um Menschenrechte?
LP: Es geht auf ganz vielen Ebenen um die Menschenrechte: Es geht einerseits um das Recht auf einen unversehrten Körper, um das Recht auf Selbstbestimmung und um das Recht auf einen eigenen Geschlechtseintrag, das findet sich in der Europäischen Menschenrechtskonvention Artikel 8 wider. Es gibt diese Rechte zwar, aber mit der Umsetzung hapert es total, auch bei den Behörden selbst, sei es bei den Sozialversicherungen, in der Schule, in Melderegistern und so weiter.
In welchen Bereichen sehen Sie weiteren Handlungsbedarf?
LP: Zum Beispiel im Bildungsbereich, wo im Biologie-Unterricht noch immer erklärt wird: Es gibt Männer und Frauen. Spätestens seit der höchstrichterlichen Entscheidung, dass inter* Menschen das Recht auf einen eigenen Geschlechtseintrag haben, sollten die Curricula geändert werden! Ich bin natürlich auch so aufgewachsen und verstehe, dass es Zeit braucht, und dass Menschen vielleicht auch Angst haben davor, dieses Zweigeschlechter-System zu verlieren. Aber Angst darf nicht dazu führen, dass Lebensrealitäten weiterhin unsichtbar gemacht werden, egal ob in Bildung, Medizin oder anderen Bereichen.
TP: Im Bildungs- oder Verwaltungsbereich dauert es lang, bis grundsätzliche Dinge angepasst werden. Das zeigt, dass es keine Priorität hat. Da müssen wir jeden Tag mit unserer Arbeit schauen, dass wir gehört werden und dass Druck gemacht wird.
Und was konnten Sie durch Ihren Aktivismus bewirken?
TP: Wir haben in den letzten acht Jahren gemeinsam mit der Plattform Intersex Österreich intensiv aufgeklärt mit Medienarbeit, Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Dadurch gibt es mehr Menschen, die VIMÖ kennen und wissen, worum es bei Geschlechtervielfalt geht. Andererseits hat es bewirkt, dass wir in Arbeitsgruppen in Ministerien vertreten sind, was extrem wichtig ist. Da geht es z.B. um geschlechtersensible Sprache, Empfehlungen für Ärzt*innen und klare Regelungen zum Verbot von nicht selbstbestimmten und medizinisch nicht dringend notwendigen Behandlungen, die die Geschlechtsmerkmale verändern. Da sollte demnächst ein Gesetzesentwurf kommen. Daran sehen wir, dass sich durch unseren Aktivismus etwas getan hat!
Was bedeutet „intergeschlechtlich“?
Als intergeschlechtlich bezeichnen sich Menschen mit vielfältigen körperlichen Variationen der Geschlechtsmerkmale (VdG). Intergeschlechtliche Menschen sind Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechtschromosomen und/oder ihrer Hormone und/oder ihrer Anatomie nicht den zweigeschlechtlichen Normvorstellungen der Gesellschaft und der Medien entsprechen. Intergeschlechtlichkeit kann entweder bereits bei der Geburt, in der Pubertät oder im erwachsenen Alter festgestellt werden. Mitunter kann es auch sein, dass eine intergeschlechtliche Variation unbemerkt bleibt. Menschen mit intergeschlechtlichen Körpern gab es schon immer (zitiert aus: Inter*Pride).
„Inter*“ ist eine empowernde Selbstbezeichnung, die Inter*-Aktivist*innen im deutschsprachigen Raum geprägt haben, um sich von den fremdbestimmten und pathologisierenden Bezeichnungen der Medizin abzugrenzen. Der Stern* steht hier als Platzhalter für die Vielfalt intergeschlechtliche Realitäten und Körperlichkeiten.
Daher wird auch bei anderen Bezeichnungen in diesem Artikel die Geschlechtervielfalt mit dem „Gendersternchen“ * ausgedrückt (zitiert aus: Inter*Pride).
[1] Peer-Beratung (englisch: peer counseling) bezeichnet die Beratung durch Menschen mit denselben Merkmalen bzw. in derselben Lebenssituation wie der Beratene. (Quelle: Wikipedia)
[2] Veraltete und nicht mehr zu verwendende Bezeichnung für intergeschlechtliche Menschen
[3] Trans* ist ein Überbegriff für Personen, die sich nicht oder nur teilweise mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht identifizieren.
[4] Abkürzung für: Lesbian, Gay, Bisexual, Trans* und Queer