Die Kunst des Wirtschaftens

 

von Bernhard Riedmann

 

In Zeiten von Social Distancing und Kurzarbeit, von brachialer Turbo-Digitalisierung, Einsamkeit und schaler Webcam-Intimität, in denen Massen an Kulturschaffenden von staatlichen Almosen leben müssen und in denen eine Umarmung oder ein Kuss mitunter so fern und surreal erscheint wie vor wenigen Monaten noch die Vorstellung beim Einkaufen Masken zu tragen – in einer solchen, der jetzigen Zeit, stellt sich die Frage: Wie können wir Mut schöpfen? Woran halten wir uns fest? Und von wem können wir uns einen guten Umgang mit Krisen abschauen?

Zum Beispiel von jemandem, der seit etwa drei Jahren ununterbrochen in solchen Umständen lebt, der weiß, wie hart und rau die Welt für einen Einzelkämpfer sein kann. Wie sich Existenzangst anfühlt. Wie man nicht daran zerbricht, den eigenen Kindern nur über Whatsapp beim Wachsen zusehen zu können. Für den Social Distancing eine Art Normalzustand ist. Und der trotzdem jeden Morgen motiviert bis in die Haarspitzen aufsteht, voller Zuversicht, Hoffnung und sagt: „Österreich ist ein guter Ort.“ Wie macht man das?

Stellt man dem 35-jährigen Kingsford Bilson diese Frage, einem jungen Mann, der seine Heimat Ghana verließ und nun versucht, ein kleines Stück vom Glück per Western Union zurück an seine Frau und seine beiden Kinder zu schicken – dieser Kingsford Bilson also holt dann ein kariertes A4-Schulheft aus seinem Rucksack, um einem den Grund für seine Hoffnung zu zeigen. „Da“, sagt er „da steht alles drin.“

Will man eine Ahnung davon bekommen, was die fein säuberlich geführten Tabellen, Zahlenreihen und Statistiken in Bilsons Heft für ihn bedeuten, muss man wohl früher einsteigen, vor fünf Jahren vielleicht, als Bilson noch in Ghana lebte und der junge Familienvater versuchte, seinen Platz in der dortigen Geschäftswelt zu finden.

Nach seinem Schulabschluss, so erzählt er, belegt Bilson Kurse über Management, hört Konzepte zu Marketing und Customer-Relationship an der Universität, schafft das erste Examen und steht abends in Gassen und Märkten, um Lieferketten für Geschäfte zu organisieren, Kundenbeziehungen zu pflegen und die Erträge seiner Auftraggeber zu steigern. Und lernt dabei: Nur mit guter Buchführung verstehst du, was in deinem Business passiert.

Und nichts anderes macht Bilson heute. Er organisiert die Lieferkette, pflegt Kundenbeziehungen und versucht, Erträge zu steigern. Nur dass dazwischen eine monatelange Odyssee durch die Türkei, Russland und Griechenland liegt, die ihn oftmals zweifeln ließ, wie er erzählt. An den Männern, die ihn verjagten, wenn er einen Kaffee kaufen wollte. Die ihn behandelten, als wäre er kein Mensch.

Als besonders demütigend in Erinnerung geblieben sind ihm die Momente, in denen er es nicht mehr aus eigener Kraft schaffte. In denen er um Hilfe betteln musste. In denen ein dickes Minus in seinen Aufzeichnungen aufschien und seine Frau Geld aus Ghana schicken musste. Diese Momente waren besonders hart. Gerade für einen wie ihn.

Was tut man, wenn nichts mehr geht? Wenn alles droht zusammenzubrechen? Sich betäuben? In der Illegalität sein Glück suchen? Aufgeben?

Bilson besinnt sich auf seine ganz persönliche Art der Lebensführung: Er schaut auf die Zahlen. Und tut, was er in Ghana gelernt hat: Er versucht sein Business zu >> verstehen. Wie kann ich meine Gewinnspanne erhöhen? Wie Fixkosten reduzieren? Wie viel braucht ein Mensch zum Leben? Und am wichtigsten: Wo finde ich Arbeit?

In einem solchen Moment im Sommer 2020 kommt Apropos in Bilsons Leben und die Dinge beginnen sich, langsam aber doch, zum Besseren zu wenden.

Nur wenige Wochen nach dem Verkauf seiner ersten Zeitung schafft er es, das Vertrauen einer Bank zu erlangen, die ihm eine Bankkarte ausstellt, wie er stolz erzählt. Er gewinnt das Vertrauen
der Kunden des Saalfeldener Interspar, viele von ihnen sind inzwischen Stamm-kunden. Sie sind der Grund, weshalb er an Österreich nicht zweifelt, sagt er, weshalb Österreich für ihn ein gutes Land ist. Ein Land, in dem es Hoffnung gibt. Ein Land, in dem sich harte Arbeit lohnt.

Und aktuell erscheint es sogar so, als könne sich dieses Versprechen, wenn auch in kleinen Schritten, für Bilson tatsächlich erfüllen. Denn zumindest ein wichtiges Etappenziel konnte er als Apropos-Verkäufer im letzten Jahr erreichen: Er schaffte es endlich, etwas Geld nach Ghana zu schicken. Eine sehr kleine Summe zwar, zugegeben, aber er lieferte. Ein magischer Moment.

Worin liegt nun das Geheimnis, sich in diesen Zeiten die Zuversicht zu bewahren? Unbeirrt seinen Weg zu gehen? An seine Träume zu glauben?

Bilson sagt, für ihn sei es immer sehr hilfreich gewesen, gewissen Grundsätzen zu folgen. „Lieber scheitern als es nicht versucht zu haben“ ist so einer. „Nur Dinge verkaufen, die man auch selber benutzen würde“ ein anderer. Allein schon deshalb kamen Alkohol, Drogen oder Zigaretten für
ihn nie infrage. Oder das Sprichwort aus seiner Heimat: „Der Ort, der dich nährt, den hält man in Ordnung.“

Besonders letzteres versucht Bilson bei seiner Arbeit als Apropos-Verkäufer jeden Tag zu leben. Er erzählt, wie wichtig es ihm ist, den Eingangsbereich des Supermarktes zu einem angenehmen Ort zu machen, an dem sich die Kunden wohlfühlen. Er versucht sich nicht aufzudrängen, hilft älteren Menschen beim Zurückgeben der Einkaufswagen, hebt auch mal ein weggeworfenes Papiersackerl auf oder ruft hinterher, wenn jemandem die Geldbörse aus der Hose rutscht.

Und abends, wenn er in sein Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft zurückkehrt, trägt er diese Dinge dann alle fein säuberlich in seine Tabellen ein, wie er erzählt. Geleistete Arbeitsstunden, Warenstand bei Arbeitsbeginn, verkaufte Exemplare, eingenommenes Geld, Sonstiges. Und zieht daraus Schlüsse, entwickelt Ideen, organisiert, strukturiert, optimiert.

Und büffelt Deutsch, damit er womöglich eines Tages an der Universität Wien seinen Business-Abschluss machen kann, noch so ein Traum. Oder überlegt, wie er ein eigenes Zimmer finden könnte, irgendwo in Saalfelden, vielleicht ja sogar mit eigener kleiner Küche. Und wie ihm dieses Zimmer dann womöglich helfen könnte, einen kleinen Kredit zu bekommen, um endlich auf eigenen Beinen stehen zu können, ein eigenes Business zu starten.

Oder wo er sich um eine Stelle bewerben könnte, in der seine Fähigkeiten gefragt sind. Oder wie er den österreichischen Staat davon überzeugt, dass man einen wie ihn hier doch eigentlich ganz gut gebrauchen könnte.

Bilson jedenfalls sagt: „Ich bin bereit.“