„Krüppelzehen!“
Für die Jänner-Ausgabe haben wir 30 Autor:innen gebeten, zum Thema „vererbt“ zu schreiben.
Dieser Text stammt von unserem Lektor Mattias Ainz-Feldner.
Alle zwei oder drei Monate kam Sophie, die mobile Fußpflegerin. Ein Preiszettel mit Wörtern, die man nie zuvor gehört hatte (Hallux valgus oder Hammerzehe), kündigte sie an. Sie hatte gewiss schon viel gesehen in ihrem Leben, war mit allen Wassern gewaschen und ließ sich nie anmerken, wie es ihr gerade ging, wenn sie die wirklich wildesten Arten von Zehennägeln bearbeitete (es ist lange her, aber ich glaube, sie trug eine Schweißerbrille und war ungefähr so gekleidet wie ein Voest-Stahlarbeiter am Hochofen). Sie war mit Sicherheit auch schon auf den sieben Weltmeeren unterwegs gewesen und hatte den Piraten die Füße schön gemacht. Das muss so gewesen sein. Denn Sophie lachte immer. Sie schenkte den Bewohner:innen der Pflegestation ihre volle Aufmerksamkeit. „Jeder hat es verdient, gesunde, gepflegte und schöne Füße zu haben“, sagte sie, wenn Frau Erika, bevor sie ihre Stützstrümpfe auszog, entschuldigend und beschämt davor warnte, dass Sophie heute sicher viel Arbeit mit ihr haben werde. „Aber was!“ Sophie gab allen Menschen um sich herum Würde, das Gefühl, gut genug zu sein, die Sicherheit, sich in guten Händen zu befinden. Wenn sie mit einer Behandlung fertig war, machte sie sauber, öffnete das Fenster des Stationsbadezimmers und rauchte eine Zigarette (so oder so ähnlich muss es gewesen sein). Dann holte sie den Nächsten.
Dass man selbst über besondere Zehen verfügt, dämmerte einem erst relativ spät. Aber lange bevor man Sophie kennenlernte. „Krüppelzehen!“, riefen die mit Standardzehen ausgestatteten Mitschüler:innen im Freibad. „Wo hast du die denn her?“ Nach Jahren, in denen man relativ viel darangesetzt hatte, seine Zehen zu verbergen (das Aufkommen der Flip-Flops war der blanke Hohn), begann endlich der Zivildienst. Und mit dem Zivildienst trat auch Sophie auf die Bühne – und die Gewissheit, dass die eigenen Zehen zwar möglicherweise ein wenig außergewöhnlich, aber sicherlich völlig in Ordnung sind. Die Zehen, die man von der Mutter vererbt bekommen hat, gab man auch an Teile der eigenen Kinder weiter. Als ich die Babyfüße mit den wohlbekannten Zehen zum ersten Mal sah, wurde mir endlich klar: Diese Zehen muss man lieben. Danke also für meine Zehen, liebe Vorfahr:innen. Und danke an alle Fußpfleger:innen.