Der Reiz des Unentdeckten

Unberührte Landschaften wirken wie ein Gegengift zum hektischen Alltag. Der Soziologe Wolfgang Aschauer erklärt, warum der Mensch die Stille sucht – und sie allzu oft zerstört.

von Sandra Bernhofer

Die Steppe, die am Autofenster vorbeifliegt, scheint schier endlos. Stunde um Stunde rüttelt der Jeep über Holperpisten, ohne dass sich die Landschaft wesentlich verändern würde. Nur ganz entfernt, am Horizont, wächst langsam eine Bergkette Millimeter für Millimeter in den Himmel. Ein Bub auf einem mageren Pferd trabt durch diese Welt aus Staub einer Herde Schafe hinterher. Ansonsten: Weite. Ohrenbetäubende Stille. Ganz lässt sich der Gedanke, der im Hinterkopf immer wieder aufkeimt, nicht unterdrücken: Was, wenn das Auto genau jetzt den Geist aufgibt? Am Ende des Ritts über Schlaglöcher wartet dann die Belohnung: eine riesige Sanddüne, hineingesetzt ins kasachische Nirgendwo wie ein Fremdkörper von einem anderen Kontinent. Wie wenig man hier mit Besucher:innen rechnet, zeigt die nagelneue Toilettenanlage – blitzblank, aber verschlossen.

Was bringt Menschen dazu, an derart unerschlossene Orte vorzudringen? Das beantwortet der Salzburger Soziologe Wolfgang Aschauer folgendermaßen: „Unberührte Landschaften wirken auf viele Menschen wie ein Gegenmittel zum hektischen Alltag, von dem sie sich heute oft erschlagen fühlen. In der Stille und Weite der Natur können wir entschleunigen, zur Ruhe kommen und uns selbst wieder spüren.“ Aschauer forscht an der Universität Salzburg unter anderem zu Reisemotiven, in seiner ersten Studie zu jenen von Trekkingtouristen in Nepal, später, in seiner Dissertation, zu den Auswirkungen von Terroranschlägen auf den Tourismus. Im Tourismus findet der Soziologe ein geradezu ideales Beobachtungsfeld, denn das Reisen legt gesellschaftliche Dynamiken besonders deutlich offen: Begegnungen zwischen Kulturen, Fragen von Identität, Ungleichheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt. „Viele Menschen berichten, dass sie in den Bergen, in Wäldern, an Meeren oder in der Wüste wieder lernen, klarer zu denken, und neue Perspektiven auf ihr Leben gewinnen“, weiß Aschauer. Die kasachische Steppe ist dabei längst nicht der lautloseste Ort auf der Welt: Zu diesen zählt das Reisemagazin Forbes etwa die Dornstrauch­savanne Kalahari, die sich im südlichen Afrika eine Million Quadratkilometer weit erstreckt, oder den Grand Canyon, in dem es so still wird, dass man das eigene Blut im Ohr rauschen hört.

Ein weiteres Reisemotiv, das in den vergangenen Jahren stark an Relevanz gewonnen hat, ist es, einen Ort exklusiv für sich zu entdecken, statt sich dort zu drängen, wo alle anderen auch schon waren. „Viele Menschen sehnen sich nach Orten, die noch ‚echt‘ sind, fernab vom Massentourismus“, berichtet der Wissenschaftler. „Man möchte quasi der bessere Tourist sein, also jener, der tatsächlich noch die Geheimplätze entdeckt und besondere Naturerfahrungen mit nach Hause nimmt.“ Für viele liege der Reiz auch darin, Bilder von unberührten Orten zu teilen, um die daheimgebliebene (Online-)Community mit außergewöhnlichen Reiseerlebnissen zu beeindrucken. Soziolog:innen haben für diesen Typus den Begriff „Prestigereisende:r“ gefunden. „Für ihn stehen die eigenen Erfahrungen gar nicht so sehr im Vordergrund – entscheidend ist vielmehr die Wirkung nach außen“, erklärt Aschauer. In Zeiten der „Instagramability“ von Reisezielen – also der ästhetischen Inszenierbarkeit, die Orte besonders attraktiv für die Darstellung auf Instagram macht – gewinnt dieser Typus zunehmend an Bedeutung: „Das Teilen von Entdeckungen ist fast zu einer neuen Form von sozialer Währung geworden – Likes und Follower werden zur Bestätigung des eigenen Entdeckergeists“, so der Experte.

Das Problem dabei: Wenn immer mehr Menschen an bislang unentdeckte Orte strömen, verlieren sie schnell ihre Ursprünglichkeit. Was einmal ein stiller Rückzugsort war, wird plötzlich durch Social Media bekannt – und damit selbst Teil des touristischen Mainstreams. „Das ist eine echte Gratwanderung“, sagt Aschauer. Auf der einen Seite könnten Social Media Regionen bekannter machen, die bisher kaum besucht wurden – mit durchaus positiven Effekten: neue Arbeitsplätze, zusätzliche Einnahmen für die lokale Bevölkerung oder eine stärkere Wertschätzung für Natur und Kultur. „Viele Orte, die auf diese Weise über Nacht an Bedeutung gewinnen, freuen sich zunächst über diese Sichtbarkeit, weil sie wirtschaftliche Chancen eröffnet“, beobachtet der Soziologe. Aber ab einem bestimmten Punkt könne das Ganze kippen: „Es leidet dann nicht nur die Umwelt, sondern auch das soziale Gefüge vor Ort. Die Lebensqualität sinkt, und der Ärger über zu viele Touristinnen und Touristen kann schnell wachsen. In der Overtourism-Forschung sprechen wir da von der carrying capacity, also der Tragfähigkeit eines Ortes. Sie beschreibt, wie viel Tourismus ein Gebiet physisch, ökologisch, wirtschaftlich und sozial verkraften kann, ohne Schaden zu nehmen.“

Das sei regional oft sehr unterschiedlich. „In Salzburg können wir den Strom der Reisenden noch teilweise verkraften, manche Stadtgebiete sind mehr und manche weniger betroffen“, nennt er ein Beispiel. „In Hallstatt dagegen wird der ganze Ort allein schon aufgrund der geografischen Lage rasch durch den überbordenden Tourismus in den Bann gezogen. Wenn sich die lokale Bevölkerung durch den Tourismus verdrängt fühlt, ist die Belastungsgrenze schnell erreicht.“ Auf Dauer könne Tourismus nur dort bestehen, wo er verantwortungsvoll geplant ist – gemeinsam mit den Menschen vor Ort. „Nur wenn sich alle gemeinsam mit dem Tourismus konstruktiv auseinandersetzen und diesen in geordneten Bahnen halten, kann eine Region auch nachhaltig vom Tourismus profitieren“, ist Aschauer überzeugt.

Doch selbst dort, wo sich Reisebusse stauen und Kameras klickend auf die immer gleichen Kulissen gerichtet sind, bleibt Raum dafür, Orte zu entdecken, die nur dem gehören, der innehält. Ein Schritt zur Seite genügt. Während die Besucherscharen also zur Ruine von Dunnottar Castle aufbrechen, das dramatisch auf seiner Felsnase über den Klippen der Nordostküste Schottlands thront, öffnet sich wenige Meter vorher ein anderer Weg: Er führt hinab zu einem Strand, wo neongrüne Flechten einen leuchttenden Teppich über schwarzes Lavagestein gesponnen haben und nur Möwen die Stille mit ihrem Ruf durchschneiden.Wolfgang Aschauer dreht diese Perspektive noch ein Stück weiter: Für ihn liegt das Glück nicht nur in der Ferne, sondern oft direkt vor der eigenen Haustür. „Es ist ungemein schön, in Salzburg zu leben“, sagt er. „Hier kann man auch in der nächsten Umgebung seine Micro-Abenteuer erleben und Orte der absoluten Stille besuchen.“ Ein Erlebnis ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: Mit einem Freund war er im Kajak auf der Salzach unterwegs, zwanzig Minuten flussabwärts Richtung Oberndorf, und plötzlich herrschte vollkommene Ruhe. Nur eine Wildente querte ihren Weg. Für Aschauer ein Beispiel dafür, wie nah das Ursprüngliche manchmal liegt. Er ist überzeugt: „Sosehr das Reisen auch fasziniert, der Ortswechsel guttut und die Neugier uns antreibt und unseren Horizont erweitert: Ich denke, ein Geheimnis eines erfüllten Lebens ist auch, das Glück in der Natur im nächsten Umfeld zu finden.“