Mein Kopf, der Feind
Kürzere Tage, wenig Sonnenlicht und sinkende Temperaturen – die dunkle Jahreszeit schlägt vielen Menschen aufs Gemüt. Psychisch Erkrankte kennen Stimmungstiefs das ganze Jahr über. Was hilft: der Austausch mit Gleichgesinnten. Das Peer Center hat sich diesem Austausch auf Augenhöhe verschrieben. In der Stadt Salzburg, Zell am See und in Tamsweg werden Betroffene begleitet – von Menschen, die selbst psychische Krisen erlebt haben.
Ein großer Tisch im Pfarrsaal in Zell am See. Darauf stehen acht Teller, dazu farbenfrohe Tassen in Rot und Grün. In der Mitte des Tisches finden sich eine blaue Thermoskanne mit heißem Wasser, ein Brotkorb mit frischem Gebäck, Butter, Marmelade und ein Glas Nutella. An dem liebevoll vorbereiteten Tisch warten die Peer-Mitarbeitenden Elke Hollaus und Hannes Motal jeden ersten und dritten Montag auf jene Menschen, die an der Gesprächsgruppe für psychisch Erkrankte teilnehmen. Das Gesprächsangebot am Morgen hilft, dem Tag eine Struktur zu geben. Beim gemeinsamen Frühstück wird geredet und die Menschen dürfen spüren, dass sie willkommen sind. „Die Gesprächsgruppen sind für Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden oder sich gerade in einer Lebenskrise befinden“, erklärt Motal, Obmann des Vereins. Um die 15 Personen nehmen zweimal im Monat hier im Pfarrsaal in Zell am See Platz. Hollaus betreut die Gruppe gemeinsam mit einer Kollegin oder einem Kollegen aus Salzburg. Bei den Gesprächsgruppen gehe es dabei vor allem um Gemütszustände, um Gefühle. „Ich frage die Leute, was sie diese Woche gemacht haben. Wie es ihnen im Alltag geht. Und manchmal kann ich auch etwas aus meiner Erfahrung geben.“
Seine Erfahrung, damit meint Motal ein starkes Burn-out, das er 2018 erlitt. Zwischen 12 und 16 Stunden pro Tag arbeitet er damals als selbstständiger Tonmeister auf Großveranstaltungen in ganz Europa. „Mein letzter Job war für Swarovski. Als ich nach Hause kam, bin ich umgefallen und das war’s. Ich war komplett leer.“ Das war zu Silvester. Motal wird ins Krankenhaus eingeliefert, es folgt ein zehntägiger Spitalsaufenthalt. „Ich konnte nicht mehr gehen und habe am ganzen Körper gezittert. Ich dachte, ich kann nie mehr gehen. Ich bin zehn Tage mit dem Rollator gegangen. Mit 56.“ Für manche seien seine Erzählungen darüber, welche starken körperlichen Beschwerden eine psychische Erkrankung auslösen kann, schwer vorstellbar. „Man muss sich das einmal vorstellen, dass man nicht mehr gehen kann, weil der Kopf nicht mehr mitmacht. Das ist das Schlimme daran, dass der Kopf der größte Feind wird.“ Ein Buch lesen oder Musik hören, das wurde für Motal zur unmöglichen Kraftanstrengung, jeder Reiz von außen ist überfordernd. „Ich bekam Panikattacken. Es war alles zu laut, zu viel.“
Aus eigener Erfahrung
Hannes Motal geht nicht mehr in seinen früheren Beruf zurück. Bei einer Reha in St. Veit verliebt sich der gebürtige Wiener in das Salzburger Land und bleibt. Was Motal damals nicht ahnt: Sein Leidensweg soll ihn später dafür qualifizieren, Menschen, die sich in ähnlichen psychischen Krisen befinden, auf Augenhöhe zu begleiten. Denn alle Mitarbeiter:innen des Peer Center haben selbst psychische Erkrankungen erlebt. Das macht die neun ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen zu Expert:innen aus Erfahrung. „Bevor man eine Gruppe leitet, nimmt man sechsmal selbst an einer Gesprächsgruppe teil. Danach leitet man die Gruppe dreimal gemeinsam mit einem Beisitzer“, erklärt Motal die Kriterien, um Peer-Mitarbeiter:in zu werden. Wer eine Gruppe leitet, moderiert und schafft eine gute Gesprächsatmosphäre.
Aggregatszustände des Menschseins
Inzwischen haben sich sieben Personen um den Frühstückstisch im Zeller Pfarrhof versammelt. Motal legt ein Kartendeck auf den Tisch. „Mood Cards“ steht in dicken Lettern darauf. Auf der Verpackung befinden sich ein fröhlicher und ein trauriger Smiley. „Mag jemand eine Karte ziehen und ein bisschen erzählen?“ Ein Teilnehmer meldet sich und blättert durch das Deck. Auf jeder Karte ist ein Gesicht mit einer Emotion wie Angst, Freude oder Wut abgebildet. Nach kurzer Suche wird der Mann fündig und legt eine Karte vor sich auf den Tisch. Er beginnt zu erzählen und lässt die Gruppe daran teilhaben, wie er sich heute fühlt.
„Die Mood Cards helfen bei der Deutung der eigenen Gefühle. Man zieht eine Karte für die Stimmung, in der man sich gerade befindet. Dann wählt man eine Karte mit der Stimmung, die man vielleicht lieber hätte. Es ist eine Hilfestellung für positive Gefühle.“ Während der Teilnehmer spricht, bringen sich auch die anderen ein und erzählen von sich. Schnell entsteht ein Gespräch – ein Miteinander, in dem Erfahrungen geteilt und Themen gemeinsam besprochen werden. „Im Grunde geht es in den Gruppen immer um die Aggregatszustände des Menschseins, die jeder kennt“, erklärt Motal. Die Peer-Mitarbeiter:innen moderieren die Gruppen. Offenheit sei dabei die Grundlage für die Arbeit im Peer Center: „Unsere Aufgabe ist es, ein offenes Ohr zu schenken. Wir werfen Fragen in die Runde, aus denen sich ein Gespräch ergibt. Aus diesem Fundus an Informationen können sich die Menschen etwas mitnehmen.“ Wichtig ist dem Peer Center die Abgrenzung zu einer Gruppentherapie oder psychotherapeutischer Hilfe. „Wir therapieren nicht, wir hören zu und moderieren das Gespräch.“ Die Peer-Mitarbeiter:innen unterliegen dabei strengster Verschwiegenheitspflicht. Was in den Gesprächsgruppen und Einzelgesprächen besprochen wird, ist vertraulich und wird nicht nach außen getragen.
Angebot in Stadt und Land
Auch die Räumlichkeiten im Peer Center in der Stadt Salzburg hellen die Stimmung auf. Der Gruppenraum ist freundlich gestaltet, die Wände sind sonnengelb. Beim Betreten spürt man: Es sind Räume, die tragen und ein geschütztes Ankommen ermöglichen. „Bevor die Menschen das erste Mal an einer Gruppe teilnehmen, kommen sie manchmal für ein Einzelgespräch zu uns. Sie sehen sich die Räume an und stellen Fragen.“ Betroffene, die sich an das Peer Center wenden, haben oft bereits einen langen Leidensweg hinter sich. Die Mitarbeiter:innen lassen sie im Erstkontakt spüren, dass ihnen jemand auf Augenhöhe begegnet. Jemand, der auch Krankheitserfahrung gemacht hat und das Leid einer psychischen Krise kennt. Unterstützung finden Betroffene in der Stadt Salzburg mehrmals pro Woche: „In der Stadt finden die Gesprächsgruppen mit Frühstück mittwochs und freitags statt, jeden Donnerstag gibt es eine Gesprächsgruppe mit Kreativität. Auch Einzelgespräche sind nach telefonischer Vereinbarung möglich“, erklärt Motal das Angebot in der Landeshauptstadt. Neben den Gesprächsgruppen haben im Peer Center auch Aktivitäten Platz – etwa gemeinsames Kekseessen und Kaffeetrinken für Menschen, die zu Weihnachten allein sind. Auch Ausflüge werden durch die finanzielle Unterstützung vom Behindertenrat ermöglicht. So gab es für die Mitarbeiter:innen und Teilnehmer:innen im vergangenen Jahr eine Winterwanderung und Kutschenfahrt in Lungötz, eine Führung durch die Salzburger Festspielhäuser und eine gemeinsame Wanderung auf das Zwölferhorn in
St. Gilgen. „Zu sehen, wie Menschen gemeinsam Spaß haben, bei Achtsamkeitsübungen mitmachen und neue Freundschaften entstehen, begeistert unser Team immer wieder. Die Projekttage sind etwas ganz Besonderes.“
Neben dem Behindertenrat wird die Arbeit des Peer Center vom Land und der Stadt Salzburg gefördert. Das gesamte Angebot von Gesprächsgruppen über Einzelgespräche und Ausflüge kann ohne Anmeldung, kostenlos und anonym in Anspruch genommen werden. Auf Anfrage begleitet eine Sozialarbeiterin Betroffene darüber hinaus zu Ämtern, etwa der ÖGK oder SVS. Neben dem Standort in Stadt Salzburg und Zell am See ist das Peer Center mit einer Zweigstelle in Tamsweg aktiv. Dort finden im Moment nur Einzelgespräche statt – jeden ersten Dienstag im Monat. Einmal im Monat fährt Motal ins Kardinal-Schwarzenberg-Klinikum, um die Arbeit des Peer Center auch im Pongau vorzustellen. „Mir ist wichtig, unsere Arbeit sichtbar zu machen und möglichst viele Menschen zu erreichen, die davon profitieren könnten.“ Vernetzung und Austausch finden darüber hinaus in Form von Trialogen statt. Dabei handelt es sich um offene Gesprächsrunden für Betroffene psychischer Erkrankungen, Angehörige und Expert:innen aus dem psychiatrischen Bereich. Die Trialoge im Bundesland Salzburg werden vom Verein AHA – Angehörige helfen Angehörigen koordiniert und finden regelmäßig zu unterschiedlichen Themen wie „Scham“, „Einsamkeit“ oder „Vom Sinn der Trauer“ statt.
Stigmatisierung beenden
Wenn Hannes Motal über die Aktivitäten des Peer Center spricht, wird deutlich, dass es dem Verein neben der Unterstützung im Alltag auch darum geht, das Bewusstsein für psychische Gesundheit zu stärken. Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei für viele Menschen in psychischen Krisen die größte Hürde. Hier möchte das Peer Center ansetzen und dazu beitragen, Themen rund um psychische Erkrankungen zu enttabuisieren. Was den gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Erkrankungen angeht, wünscht sich der Obmann des Peer Center mehr Bewusstsein: „Meine Erkrankung zog einen Rattenschwanz an Problemen nach sich. Ich konnte nicht mehr arbeiten und kam schwer aus dem Bett. Und da wäre es natürlich schön, wenn es vom Umfeld mehr Verständnis und Unterstützung gäbe.“ Für Motal selbst war es wichtig, so offen wie möglich mit seiner Erkrankung umzugehen. „Ich hätte selbst nie von mir geglaubt, dass ich psychisch erkranke. Ich habe immer gern und viel gearbeitet, bis es dann nicht mehr gegangen ist.“ Heute stehe er zu seiner Erfahrung mit einer psychischen Krise: „Das war ein wichtiger Teil meiner Genesung – dazu zu stehen, dass ich eine Erkrankung habe.“
Kleine Schritte Richtung Heilung
Eine Geschichte, die Motal gern in den Gesprächsgruppen erzählt, handelt von den kleinen Schritten, die er auf seinem persönlichen Genesungsweg gemacht hat. Nach seinem zehntägigen Spitalsaufenthalt im Jahr 2018 kann er seine Wohnung zwei Monate nicht verlassen. Zu groß sind die Überforderung und die Angst vor der Außenwelt. Jeden Tag sitzt er in der Loggia seiner Wohnung und beobachtet die Vögel im Garten. „In einem Strauch war ein Nest mit kleinen Vögeln. Ein Küken ist immer rausgehüpft, hat sich umgeschaut und ist wieder hineingehüpft. Ich habe eine Woche lang beobachtet, wie es sein Nest jeden Tag ein Stückchen weiter verlässt. Eines Tages ist es schließlich losgeflogen und ich dachte mir: Das kann ich auch.“ Motal verlässt seine Wohnung und setzt sich auf die Stiege vor seinem Haus. „Die ersten zwei Tage bin ich gleich wieder reingegangen.“ Doch Stück für Stück schafft er es weiter hinaus – bis er kurz vor Beginn seiner Reha im Park sitzt. „Meine psychische Krise war ein Prozess. Ich wollte meine Wohnung wieder verlassen und in die Stadt gehen können, aber das funktionierte nicht. Es hat winzig kleine Schritte gebraucht.“ Stets achtsam sein und gut auf seine Ressourcen achten, muss der Obmann des Peer Center auch heute noch. „Ich habe meine Strategien und schaue gut auf mich. Wenn ich merke, dass mir etwas zu viel wird, stecke ich zurück.“ Einmal schenkte ihm eine Teilnehmerin nach einer Gesprächsgruppe einen kleinen Vogel aus Porzellan – ein Symbol, die Dinge Schritt für Schritt zu nehmen.